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Kuba, Kunst und Nachbarschaft

In Havannas Stadtteil Lawton, aber auch im Zapata-Sumpfgebiet gedeiht der Bürgersinn

Viele Kubaner fühlen sich für die Entwicklung in ihrem Land und vor allem in ihren Stadtteilen verantwortlich. Sie zeigen, dass viele auch mit wenig viel erreichen können wie im Stadtteil Lawton in der Hauptstadt Havanna.

Das Wandbild in Lawton entstand in Zusammenarbeit mit Künstlern aus Dresden. Das Projekt »Muraleando« mit seinen bunten Häuserwänden, Bänken und Gehwegen ist inzwischen weltbekannt.

»Hola Compañero!« Die 74-jährige Lucie schaut von ihrer Wohnung im Erdgeschoss einem hochgewachsenen Mann entgegen. Manuel Diaz Baldrich reicht ihr mühelos die Hand über die Brüstung: »Hola Lucie!«. Die beiden sind Nachbarn. Als der Künstler Manuel im Januar vor zehn Jahren im Stadtteil Lawton, etwa acht Kilometer westlich vom Zentrum Havannas, das Projekt »Muraleando« startete, war Lucie sofort dabei. Seither hat sich das Viertel, in dem 2200 Habaneros leben, verändert. So farbig wie hier viele Häuserwände, Bänke und Gehwege sind, so bunt leuchten anderswo nur die Cocktails in den Bodegas.

»Mural« heißt »Wandbild« oder »Wandmalerei«. Lawton gleicht einer Open-Air-Galerie. Damals, als sich Manuel Gedanken machte (man könnte auch sagen, als ihm der Kragen platzte), stapelten sich alte Matratzen und Abfälle auf den Bürgersteigen. »Wir konnten kaum noch auf die Straße. Und wo sollten die Kinder spielen?« Er sagt, er habe sich schuldig gefühlt. Es ging um die Frage, wer für die eigene Lebensqualität zuständig ist. Manuel wollte nicht länger warten, ob etwas passiert. Er lief von Haus zu Haus und sammelte Farbe, Papier und Stoffe, Leim und einen Computer.

Manuel gewann andere Compañeros zur Mitarbeit und öffnete sein Haus. »Cuba Si« und andere Organisationen hörten davon. Die ersten machten sich auf den Weg und wollten mitarbeiten. So entstand das Wandbild »Dresden« mit den Schiffen. Bald kamen immer mehr Neugierige aus anderen Vierteln, Städten und sogar aus dem Ausland und bestaunten die witzigen Installationen ausgedienter (»Robotron«)-Schreibmaschinen, den »Triumphbogen« aus Autofelgen, die glänzenden Keramikfliesen im Boden.

Die Nachbarn haben den Müll aus ihrem Leben verbannt. Auf den Bänken sitzen Leute, an der Haltestelle treffen sich Liebespärchen. Es gibt Workshops und Straßenfeste. »Die Leute erleben, dass sie mit wenig etwas verändern«, sagt der Künstler, »und dass sie damit ihrer Freizeit einen Sinn geben.« Ihr nächstes Ziel ist der Bau eines Gemeinschaftshauses.

Längst haben sich weitere Künstler um Manuel geschart. Der auffallendste unter ihnen ist der lange Mario Delgado mit dem schwarzen Kraushaar. Gemeinsam mit zwei weißen Jungen rappt er, was das Zeug hält. Die Geschichte des 32-Jährigen ist schnell erzählt. Die Mutter ist tot, der Vater verschwunden. Mario landete zuerst in einer Jugendgang und dann im Gefängnis. »Das war mein Glück. Denn dort lernte ich Leute kennen, die mir die Augen öffneten«, bekennt er. »Ich wollte mein Leben ändern.« Aber als er aus dem Gefängnis zurückkam, blieb er ein Außenseiter. Bis ihn Manuel in die Gemeinschaft von »Muraleando« holte. Heute arbeitet der Rapper mit Jungen, die genau so alt sind wie er damals, als er auf die schiefe Bahn geriet. Manuel wird oft gefragt, wie sie das alles geschafft haben. Dann fährt er sich durch die schon etwas dünn gewordenen Haare und lächelt: »Es gab immer wieder Leute, die meinten, wir sind verrückt. Und oft waren wir müde. Aber dann klopften die Kinder an die Tür und fragten, wann es losgeht. Da sind wir wieder aufgestanden. Ich sage jedem, er muss sein eigenes Modell finden. Potenziale sind in jeder Gemeinschaft vorhanden.«

Die Künstlerinitiative rund um Manuel steht nicht alleine. Auch das Theater im Wald mitten im Zapata-Sumpfgebiet setzt Akzente. Mit seinen 19 Siedlungen liegt es in einer wunderschönen Landschaft. Eine schnurgerade Straße führt kilometerlang am Wasser entlang. Geschichtsträchtiges Terrain. Schriftzüge wie »Hier war die entscheidende Schlacht um den Sieg« erinnern an die im April 1961 gescheiterte Invasion der USA nach der Revolution. Da taucht plötzlich am Wegesrand eine bunte Kinderschar mit Kostümen, Masken und Trommeln auf.

Auf dem abgeschiedenen Land betreibt der Kunstpädagoge José Raúl Valdés gemeinsam mit seiner Frau Maria seit elf Jahren Kubas einziges Straßentheater für Kinder: das »Teatro del Bosque« (Theater im Wald). »Unser Projekt vereint Gesang und Tanz, aber auch Malerei und Kunsthandwerk. So erhalten wir die Traditionen unserer Dörfer«, erzählt Maria. Doch die Kinder spielen nicht nur Theater, sie gehen am Wochenende gemeinsam in die Natur, auf die Felder, in den Sumpf oder an die Küste. Sie säubern Strände, zählen Vögel und beschäftigen sich mit dem Ökosystem. Ihre Eindrücke verarbeiten sie zu kleinen Theaterstücken. »So lernen sie spielend, die Umwelt zu schützen, aber auch Solidarität und Nächstenliebe. Einige haben darüber Hausarbeiten geschrieben und ihre Ergebnisse in Havanna vorgestellt. Unser Projekt war sogar schon Thema einer Magisterarbeit über den Klimawandel«, sagt José stolz.

Das Theater hat schon viele Jahrgänge von Schülern geprägt. Und die Arbeit ist schwierig. Unterstützung kommt vom Kultur- und Bildungsministerium, das das Gehalt des Projektleiters übernimmt. Sie dürfen auch die Räumlichkeiten der Schule nutzen. Doch darüber hinaus müssen die Initiatoren sehen, woher sie Stoffe für Kostüme und Masken oder Papier für Noten nehmen. Ganz zu schweigen von Computern oder Instrumenten. José und Maria sagen, der einzige Schatz, den Zapata hat, seien seine Menschen und die Natur. »Wir wollen auch hier auf dem Lande ein lebenswertes Leben führen.«

Neues Deutschland Steffi Schweizer
Neues Deutschland, 12.04.2011