Jorgitos Log:

Sozialismus ist sexy

Jorgito Jerez Belisario


Die Kubanische Revolution schreibt unglaubliche Geschichten.

Jorge Enrique Jeréz Belisario kam 1993 mit einer schweren spastischen Lähmung auf die Welt. Er selbst sagt, dass es Jorgito el Camagüeyano nur deshalb heute noch gibt, weil er unter der schützenden Hand der Revolution aufwachsen konnte. So verwirklicht er heute seinen Lebenstraum und studiert Journalismus.
Jorgito war einer der wichtigsten Aktivisten im Kampf für die Freilassung der »Cuban Five«. Besonders verbunden ist er Gerardo Hernández, dessen Rückkehr nach Kuba er im Dezember 2014 feiern durfte. Der Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen«, der Jorgitos Leben erzählt, ist όber die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba erhältlich.

Jorgito bloggt regelmäßig auf http://jorgitoxcuba.wordpress.com/.
Die CUBA LIBRE ehrt er mit einer regelmäßigen Kolumne.




Vor drei Jahren besuchte ich die Junge Welt, also die Tageszeitung, die in der DDR die Entsprechung der kubanischen Juventud Rebelde war. Während wir über Fragen der Finanzierung, journalistischer Techniken und sogar Ethik sprachen, erblickte ich einen Bilderrahmen, in dem ein künstlerisch wertvolles Titelbild aus dem Jahr 1989 eingefasst war. Oben war ein Foto abgebildet, auf dem zwei junge Menschen gen Horizont zeigten, und die Bildunterschrift lautete so ähnlich wie "Mit Blick in die Zukunft". Seit diesem Tag frage ich mich: In welche Zukunft mögen die beiden wohl geschaut haben, zwei Wochen, bevor die Berliner Mauer in sich zusammen fiel?

Augenblicklich gehen mir verschiedene Begriffe durch den Kopf: Klassenkampf, Revolution, Sozialismus, Kommunismus, Jugend, Kontinuität … und alle sind durch eine Gemeinsame miteinander verbunden, die Kuba heißt. Nichtsdestotrotz denken wir, die jüngeren Kubaner, selten an diese Dinge. Die Dynamik des Lebens, die Mode und die neuesten Filme und Serien erlauben es uns oftmals nicht, zu philosophieren - und wenn es jemand tut, dann erscheint uns das wie Gelaber und irgendwie fernliegend. Manche von uns wenden sich diesen Fragen eigentlich nur dann zu, wenn wir eine Hausaufgabe in den Politikwissenschaften oder Philosophie zu erledigen haben, und dann geben wir in der Regel nur das wieder, was wir in einem Textbuch gelesen haben. Wie soll man auch vom Sozialismus reden, wenn meine Generation ihn in erster Linie mit Mangel verbindet, mit der Sonderperiode? Wie soll man über derlei Themen sprechen, wenn das Motto: "Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Arbeit" im Kuba von heute oftmals nicht eingehalten wird und die, die nicht arbeiten, oftmals besser dastehen als die, die sich tagtäglich in der Sonne ihre Kalorien abschuften? Wie soll man Kommunist sein wollen, wenn einem die Eltern beigebracht haben, dass ein guter Kommunist das schlechte Schulessen mit der gleichen Begeisterung zu essen habe wie das gute? Wie im gegenwärtigen kubanischen System eine Lösung für unsere Probleme sehen, wenn auf kurze Sicht keine Veränderung zu erwarten ist und es so schwer ist, aus dem Teufelskreis zwischen niedriger Produktivität und niedrigen Löhnen zu entkommen?



Und dennoch verbringen wir unser Leben damit, immer wieder neu zu begreifen, dass im Sozialismus die Lösung für die Probleme Kubas zu finden ist, und dass wir (wenn auch viele von uns immer noch nicht begreifen) die Jugend von heute sind, also diejenigen, die dieses kollektive Aufbauwerk für unser Land nach Vorne bringen werden. Deshalb kapiere ich auch nicht, wie bestimmte Leute immer noch sagen können, "der Jugend gehört die Zukunft". Nein, wir sind bereits die Zukunft! Es wird Zeit zu verstehen, dass wir der Gegenwart angehören und das auch immer getan haben; die Geschichte beweist das in aller Klarheit.

Obwohl zur Zeit der Anfänge des Revolutionsprozesses kaum jemand eine Vorstellung davon hatte, worum es sich beim Sozialismus handele und wie er aufzubauen sei, ist es kein Geheimnis, dass wir auf einem eigenständigen Weg zu ihm gekommen sind. Er stellte die einzige Alternative für ein unterentwickeltes Land dar, das 400 Jahre Kolonialherrschaft hinter sich hatte und von der größten Macht der Welt abhängig war.

Der Sozialismus bedeutete den Eingang in ein Programm zur Abschaffung des Großgrundbesitzes, welches zugleich die ausländische Kontrolle über Wirtschaft und Banken beendete und eine entscheidende Verbesserung der Lebensbedingungen für die allergrößten Teil der Bevölkerung darstellte. Alle anderen Varianten hätten bedeutet, als Satellit in der Umlaufbahn der USA dahin zu vegetieren. Bis heute besteht für uns die Chance – wenn auch unter veränderten Ausgangsbedingungen – in der Weiterentwicklung eines Systems, dass es uns ermöglicht, das, was allen gehört, auch unter allen zu verteilen. Im Verlauf eines Jahres erinnern wir zwei Ereignisse, die den Verlauf der Menschheitsgeschichte verändert haben: Der 200. Geburtstag von Karl Marx und die einhundert Jahre, die vergangen sind, seitdem die Oktoberrevolution am Schlaf der Welt gerührt hat. Dies gar nicht einmal so sehr, weil sie der Welt den nachvollziehbaren Weg in eine neue Gesellschaftsformation gewiesen hätte oder weil sie die marxistische Theorie erweitert und anwendbarer gemacht hätte, oder etwa wegen des Impulses, den sie für die Entwicklung der nationalen Befreiungsbewegungen und die Gründung von Kommunistischen Parteien auf der ganzen Welt gegeben hätte; sondern einfach deshalb, weil sie eine Alternative zum Kapitalismus eröffnet hat.

Manche mögen mich einen Träumer nennen, aber wie schon John Lennon in seinem Song Imagine sagte: I am not the only one. Die Rettung der Menschheit liegt im Sozialismus. Die Welt erträgt die Konsumwelten, die der Kapitalismus errichtet, längst nicht mehr, etwa, wenn aus Bremerhaven alle drei Tage 8.000 PKW Richtung USA verschifft werden. Wie viele Ersatzplaneten bräuchten wir, um diese Verschwendung fortsetzen zu können?

Um uns als Nation nicht selbst abzuschaffen, sind wir in der Pflicht – so phrasenhaft das auch klingen mag – unser eigenes System effektiv und nachhaltig zu gestalten, den Arbeiter zu wertschätzen, und den Staat zugleich den Privatunternehmen konkurrenzfähig zu machen. Je eher wir in Kuba erreichen, dass die Wirtschaft auf ein bestimmtes Niveau angehoben wird, um so weniger Jugendliche werden ihre Zukunft außerhalb unseres Landes suchen.

In diesen Tagen ist die Meldung durch die Netzwerke gegangen: "Erstmals kein Mitglied der Castro-Familie in der Regierung". Andere Berichte klangen versöhnlicher und versuchten, die Geschehnisse in scheinbarer Objektivität zu analysieren. Díaz-Canel war weltweit Thema auf Twitter. Kuba, die vor 1959 praktisch unbekannte Insel, bestimmte wieder einmal die Titelschlagzeilen. Schlussendlich kam er, der Wechsel in der Führung unseres Landes, der doch eigentlich die Kontinuität der Revolution darstellt. Was die internationale Presse jedoch verschweigt, ist, dass er nur deshalb eintrat, weil wir Kubaner es so wollten, und nicht, weil wir einer Erpressung von außen nachgegeben hätten.

Der US-Vizepräsident Mike Pence erklärte, dass seine Regierung die Wahl nicht anerkenne, da sie nicht demokratisch zustande gekommen sei. Das Übliche eben. Dabei hat Mister Pence wohl vergessen, dass Trump nicht von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt wurde und sein Kontrahent 3 Millionen Stimmen mehr auf sich vereinigen konnte als er. Dies beweist erneut, dass das Problem nicht in "den Castros" besteht, sondern in der Entscheidung der Bevölkerung eines Landes, die sich vor geraumer Zeit dafür entschieden hat, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.

Offensichtlich erkennen sie einen genuin demokratischen Prozess dann nicht an, wenn er nicht in den Kanon der bürgerlichen Demokratie einstimmen will. Sie können nicht nachvollziehen, wie zwei einfache Menschen aus dem Volk die Nummer eins und Nummer zwei in diesem Land werden können. Um einen Gedanken von Fidel aufzugreifen, ist es ratsam, sich vorzustellen, dass in Zukunft alles viel komplizierter sein wird und nicht einfacher, wie man es lieber sehen würde.

Der geschichtliche Moment, den wir gerade erleben, birgt viele Herausforderungen. Es kommt eine Generation an die Macht, die bei all den Leistungen, die sie auf ihrer Habenseite verbuchen kann, nicht mit dem Pfund der Geschichte wuchern kann. Ihren Führungsanspruch wird sie sich erarbeiten müssen, auf der Grundlage von harter Arbeit und sichtbaren Resultate, immer in Kontakt mit dem Volk, dem besten aller Wegweiser, ein unverzichtbares Element, um den bis heute existierenden Konsens und die Einheit, die hinsichtlich unserer Partei besteht, aufrecht zu erhalten. Das wird für das, was auf uns zukommt, notwendig sein.

Es gibt viele Herausforderungen, beispielsweise im wirtschaftlichen Bereich, den wir, der Blockade zum Trotz, dynamischer gestalten müssen. Wir müssen die Doppelwährung abschaffen, die Produktion diversifizieren und die Qualität der Produkte erhöhen, die ausländischen Investitionen konsolidieren, um so die notwendige Infrastruktur zu verbessern, um von einem wohlfahrigen und nachhaltigen Sozialismus träumen zu können.

Auf Ebene der Gesetzgebung ist die Verfassungsreform vielleicht die strategisch bedeutsamste Aufgabe dieser Legislatur. Es wird Zeit, sie zu erneuern, ohne dass sie ihr Wesen verliert, und so den Revolutionsprozess gegen diejenigen abzusichern, die auf einen Systemwechsel in Kuba bauen.

Die Generation, die uns bis hierhin geführt hat, hat die Nachkommenden gut auf das vorbereitet, was da kommen wird. Wir Letzteren müssen unter viel schwierigeren Bedingungen arbeiten, uns Herausforderungen in weltanschaulichen Fragen stellen und mit einer größeren zeitgeschichtlichen Distanz zum Tag des Sieges der Revolution.

Die Schlacht ist eröffnet, sie war schon immer und wird es bleiben, solange wir uns dem Aufbau einer alternativen Gesellschaftsordnung verschrieben haben, einer nicht perfekten, aber verbesserungsfähigen Gesellschaft, in Konfrontation zur mächtigsten aller Weltmächte. Wer nicht versteht, warum der Präsidentenübergang in Kuba in derlei Natürlichkeit vonstatten ging, ohne, dass wir uns hätten hineinreden oder an unseren Prinzipien kratzen lassen, den erinnere ich an das 26. Kapitel des Buches "Fidel – Mein Leben", welches für uns vor 12 Jahren den Schlüssel in die Hand gab, wie weiter zu machen. Wir können die Céspedes, Agramontes, Maceos, Gómez, Martís, Baliños, Mellas, Villenas, Blas, Lázaros, Marinellos und auch Fidel und Raúl nicht enttäuschen, und auch keinen von den anderen, die für das Fortbestehen dieses Weltphänomens namens Kuba gekämpft haben.

Die größte Herausforderung allerdings besteht für uns und alle, die wir den Sozialismus verteidigen, darin, den Marxismus vom verstaubten Regal zu holen und ihn in unsere jugendliche und vertraute Sprache zu übersetzen und damit zu beweisen, dass unser Modell in keinster Weise veraltet ist.

Neben der Fotokopie der besagten ersten Seite der Jungen Welt hängt als eines meiner liebsten Andenken ein Poster, gestaltet von Leuten, die jeden Tag von neuem darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Ideale gegen den Antikommunismus und das Kapital verteidigen. "Sozialismus ist sexy" lautet es dort, und ohne Zweifel ist das richtig. Es kommt gerade darauf an, seinen Sex-Appeal immer wieder neu zu entdecken.


CUBA LIBRE (Übersetzung: Tobias Kriele)

CUBA LIBRE 3-2018