Sieg durch Niederlagen

Der Sieg der Unbeugsamkeit

Hans Heinz Holz hat sich zur kubanischen Revolution und zur Rolle Fidel Castros eher beiläufig geäußert. Eine bemerkenswerte Einschätzung findet sich in seinem Spätwerk, in einem in der jungen Welt vom 12.8.2006 veröffentlichten Beitrag zum 80. Geburtstag von Fidel Castro unter dem Titel »Der Sieg der Unbeugsamkeit«. (1)

Holz erklärt darin, das Beispiel Kubas habe die weltpolitische Konstellation verändert. Castro, so Holz, habe auf die überlegene Macht der revolutionierten Vorstellung von einer besseren Welt gesetzt, der die Wirklichkeit nicht habe standhalten können. Fidel Castro sei selbst Weltgeschichte geworden, eines der welthistorischen Individuen, von denen Hegel mit Bedauern feststellt, ihnen sei ein »glückliches Leben« verwehrt geblieben. Hegel wörtlich: »Zum ruhigen Genusse kamen sie nicht, ihr ganzes Leben war Arbeit und Mühe, ihre ganze Natur war nur ihre Leidenschaft.« Holz widerspricht: »Die Ruhe bürgerlicher Behäbigkeit kennen sie nicht. Aber sie finden ihr Glück in der Mühe und Arbeit für das Wohl der Menschen, ja des Menschengeschlechts. « Holz sieht, ich zitiere, in »Castros stolze[r] Bejahung seines Rebellentums« »ein Lebensglück« ausgedrückt, das Hegel im Hörsaal der Berliner Universität nicht empfinden konnte.« (2)

Leitfigur an Knotenpunkten

Im zweiten Band seiner Trilogie »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« arbeitet Holz die auf Hegel zurückgehende Traditionslinie von Lenin bis Mao Ze Dong als individuelle Ausdrücke der epochalen Wendepunkte ab, in denen sie agierten. Fidel Castro erscheint dabei als eine solche »Leitfigur «, die an »Knotenpunkten der Geschichte« gewirkt und »der Geschichte der ganzen Welt ein neues Zeichen gesetzt« hat.

Holz drückt seine Verehrung für den praktischen Weltveränderer Fidel Castro aus, indem er ihn in einem Atemzug mit den großen Revolutionstheoretikern des 20. Jahrhunderts nennt. Aus der kubanischen Sicht wäre dies eine Binsenweisheit, gilt doch Fidel Castro in seinem Land als der einzige Revolutionär, der das Ergebnis der von ihm angeführten Umwälzung erleben und gestalten konnte; Aus der europäischen Perspektive ist diese Einschätzung allerdings erstaunlich. Holz sagt von den drei Bänden der Trilogie, sie seien »politische Schriften, auch wo sie rein philosophisch zu reden scheinen«. Entsprechend behandelt er in diesem Sinne Fidel Castros Werk aus der Überzeugung, es sei philosophisch auch dort, wo es sich um ein rein politisches Wirken zu handeln scheint. Die kubanische Revolution tritt bei Holz als die gegenwartsrelevanteste Form der Aufhebung der Philosophie in der praktischen Revolutionierung der Welt in ihrer konkreten Erscheinung auf. Ein Gedanke, der von aktueller Bedeutung ist, denkt man an die in Europa verbreitete Skepsis hinsichtlich der kubanischen Maßnahmen zur Aktualisierung des Sozialismus. Die revolutionäre Regierung, immer noch unter Anleitung von Fidel Castro, stellt sich den gegenwärtigen Notwendigkeiten der realen Weltsituation, die auch und gerade das kleine Kuba prägen und sucht in ihnen nach revolutionären Möglichkeiten.

Revolutionärer Praktiker

1959, Fidel Castro in Washington

1959, Fidel Castro in Washington,
Foto: gemeinfrei


Holz vergleicht den Juristen Castro mit Leibniz, der die Grundsätze des römischen Rechts – niemanden schädigen (neminem laedere), jedem das Seine zugestehen (suum cuique) auch das abgeänderte Dritte, allen hilfreich sein (omnes adviudare) eingeführt hatte. Man muss sich Holz' Verehrung für Leibniz vor Augen halten, um das Ausmaß der hier geäußerten Anerkennung begreifen zu können. Holz erkennt in Castros revolutionären Massenbildungskampagnen das erzieherische Aufklärungsideal wieder, und zieht auch eine Linie zu Leibniz' frühsozialistischen Auffassungen. Holz sieht in Leibniz den realpolitischen Revolutionär, für den sich Entwicklung in einem realen Möglichkeitsraum im Sinne der besten aller möglichen Welten zu entfalten hat. Die Parallele zu Leibniz zielt auf die Anerkennung des revolutionären Praktikers Castro. Holz schätzt aber auch den Ideenrevolutionär Castro, der die Wirklichkeit anhand der zur Fassbarkeit entwickelten, also naheliegenden Möglichkeit einer besseren Welt erschüttert und das Bestehende so zum Weichen zwingt. Die Annahme ist naheliegend, dass Holz sich in Castro inspiriert, wenn er an anderer Stelle von der Notwendigkeit von »reflektierten Momenten von Voluntarismus « spricht. Damit ist auch gesagt, dass der Subjekt-Faktor in der kubanischen Geschichte ein besonderes Gewicht bekommen hat. Die kubanische Revolution hat die geschichtliche Herausforderung umgesetzt, einen »kollektiven Willen « zu bilden und, wie Holz es ausdrückt, in der Praxis mit den objektiven Bedingungen zu verknüpfen.

Holz ist anhand der durch die Metapher vom »übergreifenden Allgemeinen« fassbaren dialektischen Beziehung in der Lage, die scheinbare Verkehrtheit der von Fidel Castro in den neunziger Jahren ausgerufenen »Ideenschlacht« zu begreifen. Im Kapitel zu Gramsci entwickelt Holz die Metapher vom »Schützengraben« der Bourgeoisie im Stellungskrieg im gesellschaftlichen Überbau. Holz war vermutlich nicht bewusst, dass dieses Bild als »Schützengräben von Ideen, die wichtiger sind als Schützengräben von Waffen« schon ein halbes Jahrhundert zuvor beim bereits erwähnten kubanischen Nationaldenker José Martí geläufig war. José Martí war übrigens der Begründer einer auf einer kubanischen revolutionären Einheitspartei aufbauenden Revolutionsstrategie. Die Partei Martís war vermutlich die erste Kampfpartei der Geschichte. Und mit Blick auf die hegelschen »Knotenpunkte « ist anzumerken, dass deren Gründung kurz vor Ausbruch dessen erfolgt, was Lenin später den ersten imperialistischen Krieg der Geschichte nennen sollte, nämlich den Konflikt zwischen den USA und Spanien. Auch das Motto von Martí »Gebildet sein ist der einzige Weg, um frei zu sein« bekommt in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung – bedenkt man zudem, dass sich Martís Revolutionsunterfangen auf die organisierten kubanischen Tabakarbeiter stützte. Martí, der intellektuelle Feingeist, fiel in seinem ersten militärischen Gefecht. Nach seinem Tod brachen die Gräben innerhalb der revolutionären Strömungen neu auf, Kuba entriss sich dem spanischen Kolonialjoch und fiel widerstandslos in die Fänge des US-Imperialismus. Es dauerte 58 Jahre, bis Fidel Castro 1953 mit dem Angriff auf die Moncada-Kaserne den Faden von Martí aufnehmen und dessen revolutionäres Programm umsetzen und vertiefen konnte.

Welthistorisches Individuum

Holz sieht in Castros revolutionärer Praxis die Frage nach der ontologischen Bestimmung des Status von Möglichkeiten aufgeworfen. Zur Gesamtheit einer geschichtlichen Situation gehören demnach auch die ihr innewohnenden Potentiale. Die Möglichkeit, diese Möglichkeiten zu verwirklichen, ist wiederum unter anderem im welthistorischen Individuum gegeben.

Ähnlich wie bei Mao führt auch Castros politischer Lebensweg zu einem »Sieg durch Niederlagen«. Tatsächlich liegt vermutlich in der Aufhebung gescheiterter Versuche der Kern des castroschen Denkens; Sein bekanntes Motto »Convertir los revéses en victorias« – »Rückschläge in Siege verkehren« macht dies deutlich. In diesem Zusammenhang lohnt es sich zu fragen: Was ist eigentlich eine Niederlage? Zweifellos eine nicht-realisierte Möglichkeit – oder die Realisierung einer nicht oder noch nicht bestehenden Möglichkeit. Die kubanische Revolution ist wahr, weil sie möglich war. Bar jeder Neigung, die Bedeutung der Theorie herunterzuspielen, hat Holz mit der Gratulation an Fidel Castro dem Primat der revolutionären Tat seine Referenz erwiesen. Woran sich wieder einmal zeigt, dass es die Größe dieses Universalgelehrten ausmacht, dass er seinen Genius und seinen Wunsch nach individueller Schaffenskraft in die kollektive Aufgabe einfügte: Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

1) Hans Heinz Holz: Die Klassiker der III. Internationale. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie. Band 2. Berlin: Aurora Verlag, 2011, Seiten 264-71.

2) Hans Heinz Holz: Die Klassiker der III. Internationale. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie. Band 2. Berlin: Aurora Verlag, 2011, Seite 271.


Die Gesellschaft für Dialektische Philosophie organisierte anlässlich des 89. Geburtstages des 2011 verstorbenen Philosophen Hans Heinz Holz am 27.02.2016 eine Tagung im Berliner Marx-Engels-Zentrum. Cuba Libre bedankt sich bei Andreas Hüllinghorst, unter dessen Herausgeberschaft die Beiträge des Symposiums in Kürze erscheinen werden, für die Genehmigung, Auszüge des Vortrags von Tobias Kriele vorab zu veröffentlichen.

CUBA LIBRE Tobias Kriele

CUBA LIBRE 3-2016