Deutsch-kubanisches Theaterprojekt

Als ich 2013 die Landesbühnen Sachsen verließ, wo ich viele Jahre als Schauspieldirektor gearbeitet hatte, bekam ich noch einen Auftrag: Ich sollte in Kuba ein Theater finden, das an einer Kooperation interessiert ist. Wir wollten das Stück »Ritter der Tafelrunde« von Christoph Hein, eines der wichtigsten Theaterstücke während der Jahre 1989/90 in der DDR, einem möglichen kubanischen Partner vorschlagen. Gleichzeitig sollte ich einen kubanischen Text finden, der sich auf der Basis einer kubanischen Legende dem Thema: »Auf der Suche nach dem Gral« nähert. Gegenseitige Gastspiele und gemeinsame Aufführungen in beiden Ländern waren angedacht.

Teatro del Viento: Szenenfoto Ritter der Tafelrunde

Teatro del Viento: Szenenfoto Ritter der Tafelrunde

Kuba ist ein Schmelztiegel unterschiedlichster kultureller Einflüsse. Spanische Eroberer, afrikanische Sklaven, französische Pflanzer aus Haiti, Onkel Sam aus dem Norden, chinesische Kontraktarbeiter, libanesische Einwanderer brachten ihre Rhythmen, Farben und Mythen mit und vermischten sie mit indianischen, karibischen und lateinamerikanischen Einflüssen. Das Land verfügt neben einem großen Reichtum an Musik und Malerei auch über eine interessante und vielfältige Theaterszene, hervorragend ausgebildete Schauspieler.

Ich beginne meine Suche in Manzanillo, im Südosten der Insel. Das Theater Manzanillo hat eine große Geschichte. Es wurde 1856 gegründet. In der Eröffnungsinszenierung wirkte Carlos Manuel de Céspedes, der Vater des Vaterlandes, als Regißeur und Schauspieler mit. Die Intendantin empfiehlt mir das »Teatro del Viento« in Camagüey und beschreibt es als das innovativste Theater außerhalb Havannas.

Ich liebe den Osten Kubas und ich habe mir vorgenommen, das Projekt einer Kooperation auf den Osten zu konzentrieren. Man spricht immer von Havanna: Dort sind die großen Theatergruppen zu Hause, das Teatro de la Luna, das Argos Teatro, das Teatro El Público, die das Bild des kubanischen Theaters bestimmen, in Havanna findet das Internationale Theaterfestival statt, dort gibt es die Deutsche Theaterwoche, gastieren Regisseure wie Frank Castorf, Armin Petras, Autoren wie Dea Loher und Roland Schimmelpfennig. Aber auch in Camagüey, Las Tunas, Bayamo, Santiago de Cuba oder Guantánamo gibt es interessante Theatergruppen, gibt es Schauspielschulen, experimentelles, sozial engagiertes Theater, Theater für Kinder oder mobile Gruppen, die über Land fahren.

Freddys Núñez Estenoz, Leiter des Teatro del Viento

Freddys Núñez Estenoz, Leiter des Teatro del Viento; Foto: Arne Retzlaff

Camagüey, als Santa Maria del Puerto Príncipe 1515 gegründet, ist die drittgrößte Stadt Kubas und berühmt für seine wunderschönen Plätze und Parks, seine verwinkelte Altstadt und für seine lebendige Kunstszene. Gegen Abend holt mich Freddys Núñez Estenoz, der Leiter des »Teatro del Viento«, ab und ein Streifzug durch die verschiedenen Cafés beginnt. Er ist ein aufgeschlossener, direkter Mensch, der gleich zur Sache kommt. Er ist Autor, Regisseur, Gründer und Leiter des Theaters und Organisator des Nationalen Theatertreffens. Ich frage ihn nach der Theaterstruktur in Kuba. Freddys erzählt: Das Theater in Kuba wird vom Staat durch das Ministerium für Kultur subventioniert. Es gibt in jeder Provinz Theatergruppen, im ganzen Land mehr als 180. Die Theater haben die Eigenverantwortung für ihre Produktionen. Die Schauspieler werden in drei Kategorien eingeteilt und verdienen zwischen 340 und 640 Pesos im Monat. Der Regisseur verdient 740 Pesos.

Dann gehen wir in sein Theater. Er hat extra für mich eine Aufführung vorbereitet. Gezeigt wird »Elstern«. Ein hartes, ehrliches Stück über den Mord an einem Strichjungen, der in der Stadt passiert war und viel Aufsehen erregt hatte. Ein schwarzer Raum, etwas Licht, vier Schauspieler und ein Text, der von unbedingter Lebensgier spricht, verstörend, gnadenlos. Über das Maß an Offenheit und Gesellschaftskritik bin ich erstaunt. Nach der Vorstellung versammelt der Theaterleiter das gesamte Theater, stellt mir jeden Mitarbeiter vor, von der Einlassfrau bis zum Hauptdarsteller, und lädt mich zum Nationalen Theaterfestival im Oktober nach Camagüey ein.

Ich bin mir sicher, dass eine Kooperation mit diesem Theater auch für uns in Deutschland eine neue Erfahrung sein würde und nachdem der Intendant der Landesbühnen Sachsen einer Zusammenarbeit mit dem Teatro del Viento zugestimmt hat, kann die Organisation des Projektes beginnen.

Im Oktober fahre ich wieder nach Camagüey, diesmal zum Nationalen Theaterfestival Kubas.

Teatro El Público

Teatro El Público: Halte Deine Kinder vom Alkohol fern; Foto: José Gabriel Martinez

Die besten Inszenierungen der letzten zwei Jahre waren zu sehen, Kindertheater, Straßentheater, Theater für Erwachsene. Theoretische Foren, Kritikergespräche, Konzerte und Ausstellungen erweiterten das Programm. In 10 verschiedenen Theatersälen wurden von 26 Gruppen 85 Vorstellungen gezeigt, Straßen und Plätze theatralisiert. Eine Stadt fest im Griff des Theaters.

Eröffnet wurde das Festival durch das Teatro del Viento mit der Inszenierung »Der Millionär und der Koffer« von Freddys Núñez Estenoz zum 200. Geburtstag der aus Camagüey stammenden Dichterin Gertrudis Gómez de Avellaneda. Auf Grund des großen Andrangs begann die Premiere in einem kreativen Chaos eine halbe Stunde später. Hunderte Menschen, Besucher, Teilnehmer am Festival, Kritiker drängelten sich vor der einzigen Eingangstür. Die Handlung war ins Hier und Jetzt verlegt und voller Anspielungen auf die sozialen Nöte und den verzweifelten Überlebenskampf im heutigen Kuba.

Kuba befindet sich politisch und ökonomisch in einem Transformationsprozess. Die Schere aus steigenden Preisen und stagnierenden Einkommen, existenzielle Verunsicherung, soziale Marginalisierung, Prostitution und Gewalt waren immer wieder Themen der Inszenierungen.

Das Argos Teatro aus Havanna zeigte unter der Leitung von Carlos Celtrán eine Bearbeitung von Sartres »Die respektvolle Dirne«, einen Politkrimi, in dem eine Prostituierte, die Zeugin eines Mordes an einem jungen Schwarzen geworden war, zu einer Falschaussage gezwungen wird.

Aus dem Spannungsfeld Exil und zurückgelassener Heimat entstehen immer neu gestellte Fragen nach der eigenen Identität. Auswandern wird nicht nur als Weggehen verstanden, sondern auch als Reise ins Innere, als Versteckspiel vor sich selbst, als Fantasiewanderung. Die Insellage als Synonym für das Ausgeliefertsein war in mehreren Inszenierungen Thema.

Teatro de la Luna: Delirio Habanero

Teatro de la Luna: Delirio Habanero
Foto: José Gabriel Martinez


Der Regisseur Raúl Martín lässt in »Delirio Habanero« drei Verlorene aufeinandertreffen, die sich in andere Personen hineinträumen und die immer gleichen Ellipsen aus Sehnsucht, Verleugnung, Obsession, Überhebung und Absturz durchwandern.

Aus Santiago de Cuba kommt das Estudio Teatral Macubá mit dem Stück »Totenwelt« und führt die Zuschauer in die uns fremde Welt der Yorubareligion. In der Aufführung von Rogelio Orizondos Stück »Halte deine Kinder vom Alkohol fern« des Teatro El Público aus Havanna mit einer schwedischen und einer kubanischen Schauspielerin arbeitet eine junge Generation eher performativ und zerschlägt thematisch und ästhetisch die geschlossene Form.


Theater in Kuba ist politisches Theater – Zensur, thematische Tabus waren nicht bemerkbar. Die Aufführungen müssen mit geringsten Mitteln auskommen, finden oft im leeren Raum statt, die Ensembles sind klein. So muss das Spiel des Schauspielers das Zentrum der künstlerischen Arbeit sein. Sehr gut ausgebildet, verfügt er über ein hohes Maß an Expressivität, Musikalität und Sinnlichkeit.

Zum Abschied übergibt mir Freddys sein Stück »Sehnsucht Kuba«, seinen Beitrag zur Kooperation. Auf dem Flughafen Frankfurt warten fünf Deutsche und eine Kubanerin auf ihren Flug nach Havanna. Die Abflugzeit verzögert sich. Die Figuren lernen sich näher kennen, Lebensgeschichten, Erfahrungen, Vorurteile, Sehnsüchte und Projektionen prallen aufeinander. Schicht für Schicht werden die wahren Intentionen der Reise nach Kuba bloßgelegt und die Sympathie, die Offenheit und das Interesse dem Land gegenüber erweisen sich als egoistisch und geheuchelt. Diese Erfahrungen korrespondieren mit der Lebensgeschichte der Kubanerin, den Gründen ihres Gangs ins Exil und ihrer versuchten Rückkehr in ihre Heimat. Mit einem deutschen Text soll die kubanische Realität gespiegelt werden und mit einem kubanischen Text die deutsche. Ein Dialog, der im Herbst in Form von gegenseitigen Gastspielen in Deutschland und Kuba stattfinden soll.


CUBA LIBRE Arne Retzlaff

CUBA LIBRE 3-2015