Amnesty International Bericht 2011:

»Das Land auf dem amerikanischen Kontinent, das am meisten die Menschenrechte respektiert, ist Cuba…«

Zusammenfassung eines Interviews, das der französische Schriftsteller, Journalist und Universitätsprofessor Salim Lamrani einem alternativen Radiosender in Miami gegeben hat. Im Programm »La Tarde se Mueve« beantwortet er Fragen von Edmundo García. Das Interview ist gekürzt und nach Themenbereichen zusammengefasst.

Salim Lamrani

Dr. Salim Lamrani

ist ein französischer Essayist und Dozent an der Universität Paris-Sorbonne und der Universität Paris-Ost Marne-la-Valleé.
Er schreibt vor allem über Cuba und seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.
Veröffentlichungen unter anderem bei Réseau Voltaire, rebellion.org, Latinoamérica, Progresso Weekly, Znet – hin und wieder auf Huffington Post.
Buchveröffentlichungen u.a.:
»Cuba. Ce que les médias ne vous diront jamais« (Cuba. Was die Medien Ihnen niemals sagen werden) und »Etat de siège. Les sanctions économiques des Etats-Unis contre Cuba« ( Belagerungszustand. Die Wirtschaftssanktionen der Vereinigten Staaten gegen Cuba )

Foto: lajovencuba.wordpress.com


Die Medien, Cuba und die Menschenrechte

Ich glaube, wir müssen mit folgendem Postulat beginnen: Die großen Wirtschafts- und Finanzgruppen kontrollieren den Pressesektor und die Rolle der Presse ist es bereits nicht mehr, dem Leser, der öffentlichen Meinung wahre, nachprüfbare Informationen zu verschaffen, sondern den Markt der Ideen zu kontrollieren und die bestehende Ordnung zu verteidigen. Von daher ist die Objektivität der Medien ein Mythos; sie verteidigen ganz bestimmte Interessen. Du hast die Frage der Menschenrechte aufgeworfen, das ist das Problem par excellence, das man benutzt, wenn es um Cuba geht (…) Zählt nicht auf mich, wenn ihr hören wollt, dass es in Cuba keinerlei Menschenrechtsverletzung gibt; ich möchte mir aber eine auf der Wahrheit beruhende, nachprüfbare Meinung über die Situation der Menschenrechte in Cuba bilden. Um zu sehen, ob dort irgendetwas anders ist, verglichen mit dem Rest der Welt, muss ich nur auf eine internationale Quelle wie Amnesty International zurückgreifen. Dort veröffentlicht man jedes Jahr einen ausführlichen Bericht über die Menschenrechte in Cuba. Nun ist das, was die Medien uns vorgeben, folgendes: »Cuba ist ein Land, das die Menschenrechte verletzt und sich darin vom Rest des amerikanischen Kontinents unterscheidet.«

Wir können dieses Grundpostulat mit den Tatsachen vergleichen und den Bericht zu Rate ziehen. Nach dem Bericht von Amnesty International vom April 2011 ist Cuba das Land auf dem amerikanischen Kontinent, das am wenigsten die Menschenrechte verletzt oder das am meisten die Menschenrechte respektiert. Wenn Sie nicht glauben, was ich sage, gehen Sie doch auf die Internetseite von Amnesty, wo der Bericht in drei Sprachen veröffentlicht ist. Amnesty International ist nun eine Organisation, die wir schon allein deswegen nicht als pro-cubanisch bewerten können, weil sie seit 1988 die diplomatischen Beziehungen zu Cuba abgebrochen hat. Daran sieht man den Abgrund zwischen der grundsätzlichen Rhetorik der Medien und der auf Fakten beruhenden Wirklichkeit. Jetzt könnten sie sagen, dass Kolumbien und Honduras nicht gerade beispielhaft sind, was die Menschenrechte angeht.

Lasst uns folgendes Beispiel nehmen. Vergleichen wir die Menschrechtssituation in Cuba und der Europäischen Union. Warum die Europäische Union ? Weil die Europäische Union seit 1996 wegen der Menschenrechte Cuba den »Gemeinsamen Standpunkt« auferlegt hat. Was ist dieser »Gemeinsame Standpunkt« ? Er ist die Säule, auf der Brüssels Außenpolitik gegenüber Cuba beruht und die jeden diplomatischen, politischen und kulturellen Austausch beschränkt. Es ist wirklich kurios, dass das einzige Land auf dem amerikanischen Kontinent, das dem »gemeinsamen Standpunkt« geopfert wird, ausgerechnet das Land ist, das laut Amnesty International am wenigsten die Menschenrechte verletzt, nämlich Cuba. Das ist der erste Widerspruch. Jetzt muss man natürlich bewerten, welche Legitimität die Europäische Union hat, sich überhaupt als Richter in Sachen Menschenrechte aufzuspielen. Denn um ein Land stigmatisieren zu können, muss man selber unangreifbar sein.

Was sagt Amnesty International dazu ? Laut Bericht vom April 2011 haben 23 der 25 Länder, die später für politische, diplomatische und kulturelle Sanktionen gegen Cuba stimmten, eine schlechtere Menschenrechtsbilanz aufzuweisen als Cuba selbst. Nehmen wir einmal Frankreich, den Fall, der mich am meisten betrifft, wo wir doch das Vaterland der Menschenrechte sind. Trotzdem, gehen Sie auf die Webseite von Amnesty, vergleichen Sie die Berichte über Cuba und Frankreich und ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse – mit anderen Worten, ein Beispiel der Medienmanipulation. Ich wiederhole, Cuba hat keine weiße Weste in der Menschenrechtsfrage. Es gibt Kritik an der Redefreiheit, an der Versammlungsfreiheit etc. Aber wenn man dies mit der Realität auf unserem Kontinent vergleicht und mit dem amerikanischen Kontinent, sehen wir um welch gigantische Manipulation es sich handelt.

Über Cuba hat Amnesty im Gegensatz zu Ländern der Europäischen Union nie einen politischen Mord durch Ordnungskräfte berichtet – wie im Vereinten Königreich und verschiedenen anderen Ländern … niemals Zwangssterilisationen von Frauen ethnischer Minderheiten, Folter in Gefängnissen, massive gewalttätige Repression bei öffentlichen Kundgebungen mit Tränengas etc, Diskriminierung gegenüber Kindern ethnischer Minderheiten im Bildungssystem wie in Tschechien und der Slowakei. Da gibt es viele schlimme Beispiele mehr.

Die Auswanderung in den Medien

Das Migrationsproblem wird politisiert, sobald es um Cuba geht. In der Presse wird immer von folgendem Postulat ausgegangen: »Die Cubaner wandern massiv in die USA ein. Das zeigt das Scheitern des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Modells«. Was man jedoch nie sieht, nachdem diese Behauptung aufgestellt wurde, sind Daten, Statistiken von denen wir aber wissen, dass sie existieren. (…) Die letzten Statistiken, die ich konsultiert habe, waren von 2006. Man kann diese Daten im Internet auf den Webseiten der US-Einwanderungsbehörden einsehen. Dort kann man feststellen, dass es in Lateinamerika 9 Länder gibt, aus denen mehr Menschen in die USA einwandern als aus Cuba. Trotzdem hat man diese Problematik nie benutzt, deswegen die Regierungen von El Salvador, Mexiko, Jamaika, der Dominikanischen Republik etc. anzuschwärzen. Wenn wir die Realität betrachten, stellen wir fest, dass im Jahr 2006 aus El Salvador, einem Land mit weniger als 6 Millionen Einwohnern dreimal mehr Leute in die USA einwanderten als aus Cuba, einem Land mit 11 Millionen Einwohnern. Trotzdem hat man das nie dazu benutzt, die neoliberale Wirtschaftspolitik dort anzuprangern oder die Regierung schlecht zu machen. Daran kann man sehen, dass es sich im Falle Cuba um eine diskriminierende Stigmatisierung handelt. Wenn wir wirklich die Emigration als ein Legitimitätsthermometer einer Regierung oder eines Systems anwenden wollen, kann man nur zu einem Schluss kommen: dass die cubanische Regierung, das cubanische System zu den legitimsten auf dem amerikanischen Kontinent gehören. Stellen wir uns noch die folgende Frage: Was würde passieren, wenn die US-Regierung ein Einwanderungsgesetz mit den gleichen Privilegien für die Mexikaner einführen würde, wie sie seit 2006 schon 45 Jahre für Cuba gelten, und sei es nur für 4 Stunden.1 Was glauben Sie, würde dann in Mexiko passieren ?

Salim Lamrani

Foto: Cubadebate

Die Medien und die Blockade

Da gibt es ein ganz aufschlussreiches Beispiel. In der Geschichte der UNO-Abstimmungen ist die Resolution gegen die Wirtschaftssanktionen gegen Cuba diejenige mit den meisten Stimmen. Im Oktober 2011 hat zum 2o. Mal eine überwältigende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft, 185 Länder, für die Aufhebung dieser Sanktionen votiert. Trotzdem wurde dieses Medienereignis von der Presse unterdrückt, zensiert und ignoriert. Die westliche Presse schreibt viel über Cubas wirtschaftliche Probleme und da gibt es wirklich ernsthafte. Trotzdem erwähnt sie nie das Haupthindernis für eine wirtschaftliche Entwicklung der Nation – nämlich das Handelsembargo oder die Blockade, egal wie wir es nennen wollen.

Einige Daten: Cuba kann absolut nichts in die USA verkaufen, es kann nur unter Restriktionen seit dem Jahr 2000 Grundnahrungsmittel kaufen. (…) Aber noch viel schlimmer ist, dass die Wirtschaftssanktionen einen extraterritorialen Charakter haben. Wenn zum Beispiel eine französische Kuchenfabrik, und wie jeder weiß, machen die Franzosen hervorragende Kuchen, ihre Kuchen in die USA exportieren und verkaufen möchte ( denn immerhin sind die USA, wie jeder weiß, die größte Macht auf dem Weltmarkt ), muss dieses französische Unternehmen dem US-Finanzministerium beweisen, dass sein Kuchen kein Gramm cubanischen Zuckers enthält. Cuba kann also wegen der Blockade absolut nichts in die USA verkaufen, in diesem Fall kann es aber auch nichts an Frankreich verkaufen. Oder nehmen wir das Beispiel Mercedes Benz, das deutsche Unternehmen, das vielleicht die besten Autos der Welt herstellt. Damit Mercedes Benz Autos in die USA exportieren kann, muss das Unternehmen dem US-Finanzministerium beweisen, dass seine Autos kein Gramm cubanischen Nickels enthalten. Die Folge ist, dass Cuba nicht nur sein Nickel nicht in die USA, sondern auch nicht an Deutschland verkaufen kann. Diese Beispiele machen das Ausmaß der Wirtschaftssanktionen deutlich.

Die 5, Alan Gross und der Papstbesuch

Wenn die US-Regierung sagt: »Wir erwarten Signale und Reziprozität, um die Beziehungen normalisieren zu können«, ist das ein völlig falsches Postulat, weil schließlich Cuba keine Wirtschaftssanktionen gegen die USA verhängt hat. Cuba hält auch kein Stück US-Territorium gewaltsam besetzt, wie die USA im Fall von Guantánamo. Cuba finanziert auch nicht die interne Opposition in den USA, damit sie die innere Ordnung dort umstürzen soll. Die Aggression, die Feindseligkeit, der Belagerungszustand sind vollkommen einseitig. Cuba muss gegenüber den USA also keinerlei Konzessionen machen, auch nicht im emblemtischsten Fall, dem der Menschenrechte. Ich wiederhole es nochmals, vergleichen Sie die Berichte von Amnesty International über die Menschenrechte in Cuba und den USA und Sie werden sehen, dass alles nur Rhetorik ist, ein Argument, das jeder Grundlage entbehrt und dass die USA absolut keinerlei moralische Autorität haben, sich in dieser Frage zu äußern.

Und nun zum Fall Alan Gross. Alan Gross ist ein Vertragspartner, der für USAID ein Programm entwickelt hat, um die cubanische Regierung, das cubanische System zu untergraben mit eindeutiger Ausrichtung auf einen Regime Change. Er belieferte Teile der Dissidenz mit Material für Satellitentelefone von höchster Technologie. Es ist nicht erlaubt, ein Satellitentelefon nach Cuba einzuführen. Warum ? Weil Cuba ein Land ist, das 50 Jahre lang unter Terrorismus gelitten hat. Mit einem Satellitentelefon kann man jemandem klare Anweisungen geben, eine Bombe zu legen und wer weiß, was sonst noch. Washington hat gesagt, Alan Gross sei nur nach Cuba gereist, um der kleinen jüdischen Gemeinde in Havanna zu helfen. (…) Die größten jüdischen Organisationen sagten aber wiederholt, sie hätten keinen Kontakt zu Alan Gross gehabt. Außerdem benötigten sie dessen Hilfe nicht, weil sie ausgezeichnete Beziehungen zur Regierung hätten und viele Verbindungen zu jüdischen Gemeinden in den USA und im Rest der Welt, die sie mit allem versorgten, was sie benötigten. Fakt ist, dass Alan Gross Teil eines Programms war, bei dem er möglicherweise nicht über die Risiken informiert wurde. Aber er verletzte das Gesetz, beging eine schwere Straftat, eine Straftat übrigens, die in Frankreich mit 30 Jahren Gefängnis bestraft würde.

Ich glaube aber, dass es sich in diesem Fall neben einem politischen Fall auch um einen humanitären Fall handelt. Und deswegen ist Reziprozität so wichtig, um dieses Problem Alan Gross zu lösen. Wenn die USA die fünf politischen Gefangenen freilassen ( einer ist aus dem Gefängnis aber nicht in Freiheit ), ich beziehe mich auf diejenigen, die gewalttätige Gruppen des cubanischen Exils unterwanderten, um terroristischen Attentate zu verhindern und die zu Strafen von 15 Jahren bis zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt wurden. Ich glaube, dass, wenn die Obama-Regierung, und das ist verglichen mit der vorigen eine klarsichtigere Regierung, dieses Problem lösen will, sie einem Gefangenenaustausch zustimmen kann. Lasst die Fünf frei und ich bin überzeugt, dass die Regierung in Havanna sofort Alan Gross auf freien Fuß setzen würde. Ich glaube, man muss auf keine einseitigen Gesten warten, nur der Dialog, die Verhandlung kann in etwas Positives münden.

Ich glaube, dass der Besuch des Papstes von Vorteil sein wird. Nicht nur für Cuba, sondern auch für die Beziehungen zwischen Havanna und Washington. Verschiedene Mitglieder der katholischen Kirche der USA und Cubas, namhafte Mitglieder, haben vor kurzem eine Erklärung veröffentlicht, die darum bittet, dass die eine Seite Alan Gross aus humanitären Gründen freilassen soll und die andere Seite die Fünf. Ich glaube, dass die Stimme des Vatikans eine wichtige Stimme auf der internationalen Bühne ist und ich bin sicher, dass die Regierung in Havanna ihr Aufmerksamkeit entgegen bringt. Ich hoffe, dass die Obama-Regierung das gleiche tut und dass sich die Spannungen, die seit 50 Jahren zwischen beiden Ländern herrschen, abschwächen können.

Der »arabische Frühling« und Cuba

Ich glaube, es ist schwierig, die großen historischen Tendenzen der arabischen Welt in kurzen Worten wiederzugeben. Die Leute, wie du betont hast, wollen wissen, warum das nicht in Cuba passiert. Aus einem ganz einfachen Grund: In Cuba hat der Frühling bereits 1959 stattgefunden. Ich sage nicht, dass es nicht Leute in Cuba gibt, die unzufrieden sind. Aber diese Leute wissen genau, dass Veränderungen in Cuba innerhalb Cubas ohne ausländische Intervention geschehen müssen. Die Cubaner wissen, was sie zu verlieren haben. Wenn die cubanische Regierung eine Regierung wäre, die ihre Autorität mit Gewalt durchsetzen würde, hätte das Volk schon längst rebelliert. Die Cubaner sind kein feiges Volk und man muss nur seine Geschichte lesen, um das festzustellen. Das Volk hat gegen das spanische Imperium, gegen die Machado-Diktatur und gegen die Batista-Diktatur rebelliert. Daraus kann man sehen, dass es einen Konsens innerhalb der cubanischen Gesellschaft gibt, das System, das sie haben, zu bewahren, die exzessiven Restriktionen und Verbote zu eliminieren – das System zu verbessern. Das ist der große Unterschied zwischen einer Regierung des Volkes, wie die in Cuba, und Militärdiktaturen, wie die in Ägypten.

Vor einiger Zeit haben wir die schreckliche Repression gesehen, die in Ägypten herrschte. Was war die Position der USA ? Sie war »besorgt«. Stellen Sie sich vor, so etwas würde in Cuba passieren. Ich glaube, dass dann selbst Luxemburg eine militärische Invasion für die Insel fordern würde. (…)

Logo CUBA LIBRE Renate Fausten

Programm »La Tarde se Mueve« mit Edmundo García ausgestrahlt am 29. 12. 2011
Veröffentlicht in »Cubadebate« am 3. 1. 2012 unter dem Titel "La primavera cubano ocurrió en 1959"

CUBA LIBRE 2-2012