Die Bergsteiger-Uni
Ein Blick auf die Veränderungen in Kuba

Wie sind die aktuellen Veränderungen des kubanischen Wirtschaftsmodells einzuschätzen?

Kuba, sagen die Menschen hier nicht ohne Stolz, ist eine einzige Universität. Und man mag nicht widersprechen. Die Ecken und Plätze Habannas erzählen reichlich von Weltgeschichte, von Gefechten mit und ohne Waffen, von Verlusten und von Siegen, von großen Schritten und von kleinen notwendigen Begebenheiten.

Den Kubanern selbst scheint die geschichtliche Aufladung ihres Landes nichts Besonderes. Die eigenen Taten und Unterlassungen waren schon immer von weltweiter Bedeutung. Vielleicht hat sie das gegen Ratschläge, Warnungen und Drohungen aus jenem alten Teil der Welt, der sich selbst für den wichtigsten hält, immun gemacht. Denn in diesen Zeiten geht es dem sozialistischen Kuba wie dem Bergsteiger bei Brecht, der unter den gespannten Blicken unzähliger Schaulustiger den Sturm auf den Gipfel in Anspruch nimmt. Sieht er sich gezwungen, ein Stück bergab zu klettern, zetern und frohlocken die Zuschauer über das vermeintliche Scheitern. Strebt er dem Gipfel entgegen, bejubeln sie ihn, prognostizieren aber hinter vorgehaltener Hand den baldigen Absturz.

Die Rede ist von den Anstrengungen, die die kubanische Revolution unternimmt, um ihre wirtschaftliche Basis in die Zukunft hinein zu sichern, und die in anderen Teilen der Welt als »Reformen«, »Rückkehr zur Marktwirtschaft« und »Aufweichung des Sozialismus« gehandelt werden.

Worum geht es tatsächlich bei dem Prozess, den die Kubaner »Aktualisierung« nennen ?

Um die Notwendigkeit, die niedrige Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Darum, diesen Produktivitätsanstieg in eine Erhöhung des Lebensstandards der Werktätigen umzusetzen. Darum, das Land von Importen unabhängig zu machen, vor allem im Lebensmittelbereich. Darum, die Wirtschaft flexibler zu organisieren, ohne deshalb die gesellschaftliche Planung außer Kraft zu setzten.

Dieser Weg ist steinig, und er verläuft widersprüchlich. Die Revolution macht ihre ersten Erfahrungen mit einer Unternehmenssteuer, mit einem Sozialversicherungssystem, mit einem Wohnungsmarkt. Es gibt Erscheinungen von sozialer Ungleichheit, von Bereicherung und von Korruption. Mit diesen Problemen hart ins Gericht zu gehen, sie sichtbar zu machen, ist ein Teil der besagten Aktualisierung.

Um im Bild zu bleiben: Was den verharrenden Schaulustigen am Berg entgeht, ist die Tatsache, dass der Bergsteiger ein Ziel hat und folglich eine Richtung. Wenn Kubas Aktualisierungsprozess auch auf den ersten Blick ökonomischer Natur ist, so strebt er doch danach, der jungen Generation beste Bedingungen für die anstehende Übernahme der Leitung des Landes zu schaffen. Fidel und Raul, heißt es in Kuba, sind die einzigen Revolutionsführer der Geschichte, die die Gelegenheit haben, ihre Fehler selbst zu korrigieren.

Die äußeren Bedingungen sind dabei kritisch. Das waren sie immer. Die internationale Aggression gegen Kuba ist ungebrochen. Der Gegner ist in allen technischen Belangen überlegen. Die Nahrungsmittelpreise würgen die Dritte Welt. Die Grundfrage Kubas lautet also und wird weiter lauten: Was geht, wenn nichts geht?

53 Jahre Revolution haben wiederholt bewiesen, dass immer etwas geht, wenn man nur nicht in Stillstand gerät. Die Universität zu Kuba lädt die Welt ein, von ihr das Bergsteigen zu lernen.

Logo CUBA LIBRE Tobias Kriele, Student und Dokumentarfilmer in Havanna,
versucht sich an einer deutsch-kubanischen Perspektive

CUBA LIBRE 2-2012