Bolivianische Impressionen - 2. Teil

Maria Luz zufolge, die in der Hauptstadt geboren wurde, jedoch seit langem in Deutschland wohnt, besteht La Paz aus erstens Bolivien, zweitens Miami und drittens Kalkutta. "Bolivien" stellt den größten Teil der Stadt dar, "Miami" ist der Wolkenkratzerbezirk, wo die meisten der wohlhabenden Weißen logieren, und mit "Kalkutta" meint sie El Alto.
Reden wir ein wenig über

El Alto

Vor wenigen Jahrzehnten noch eine Ansammlung von Häusern um den Flughafen herum mit etwa 5000 Einwohnern, ist die Ortschaft inzwischen zu einem Moloch von 800.000 Menschen herangewachsen, zu Boliviens drittgrößter Stadt, die – ehemals Vorort – mittlerweile natürlich längst eigenständig ist mitsamt Bürgermeister und allem Drum und Dran. Wenn man mit dem Flugzeug darüber fliegt, so gewahrt man eine nicht enden wollende Ansammlung kleiner (ein- bis zweigeschossiger) roter Gebäude. Die rote Farbe rührt von den nackten Mauersteinen her, die zu verputzen kaum einer Lust und Geld hat. Bauland ist dort oben im "Altiplano", wo fast nichts wächst, was größer würde als eine Einkaufstüte, allerdings sehr billig zu erwerben. So sprießt El Alto unaufhaltsam vor sich hin und kein Ende ist abzusehen, denn die Hochebene ist flach bis zum Horizont. Es bedarf keiner seherischen Fähigkeiten, um zu prophezeien, dass El Alto in näherer Zukunft La Paz von der Bewohnerzahl her überrundet haben wird, kann es sich doch – gleichsam anarchisch – nach Belieben ausbreiten, während die Hauptstadt kaum Möglichkeiten hat, sich zu erweitern, es sei denn, sie würde ihre ganzen modernen Bauten um zusätzliche Etagen aufstocken. Selbst an all den Hängen sind praktisch keine Plätze mehr frei.
In El Alto leben so gut wie ausschließlich "Indigenas". Es gibt kommunal mit Finanzspritzen unterstützte Selbsthilfeprojekte dort; auch sehen wir im Vorbeifahren eine Niederlassung von Cubas "Operación Milagro", jener breit gefächerten Hilfsaktion, die an blinden oder auch von Erblindung bedrohten Menschen kostenlos Augenoperationen durchführen. Außerdem findet man jede Menge Discos und jede Menge Jugendkriminalität.
Es ist, wie man hört, nicht gerade ratsam, als "Gringo" in El Alto den Reisebus zu verlassen, wenn man sich nicht ein paar Steine einfangen will. Das mag übertrieben sein, aber immerhin hielt es uns davon ab, ein Konzert von "Kjarkas", der absoluten folkloristischen Topgruppe des Landes, zu besuchen, was wir bis heute auf das Heftigste bedauern, denn wir haben eine sagenhafte Live-CD dieser Band. Das Einzige, was das hässliche El Alto dem wunderschönen (und weitgehend friedlichen) La Paz überlegen macht, ist ein atemberaubender Blick über die Hauptstadt.

Die Politik

Als Evo Morales (als erster indigener Präsident in der Geschichte einer zu 80 % indigenen Bevölkerung) Staatschef von Bolivien wurde, wetzten andere bereits ihre Messer! In Santa Cruz, der größten Provinz im Osten des Landes, die über die meisten Bodenschätze verfügt (und über die meisten Geldsäcke), gibt es Sezessionsbestrebungen, um das Sozialprogramm von Evo nur ja nicht mitfinanzieren zu müssen.
Über das Internet wurde kurz nach seinem Amtsantritt wortwörtlich verbreitet, man müsse "ese indio de mierda" ("diesen Scheißindio") loswerden. Vielleicht könne man ja stattdessen den Indio X (es folgt ein Name) einsetzen. Dem müsse man nur ein paar Geschenke machen, und dann werde er einem schon aus der Hand fressen.
Am 17.9.2009 gab es einen Artikel in "Rebelion" unter der Schlagzeile "21. Jahrhundert: Dem Indio Evo Morales wird untersagt, an einer Messe von Weißen teilzunehmen". Diese Messe, die "expocruz", die wie jedes Jahr in der Provinzhauptstadt Santa Cruz de la Sierra veranstaltet wird, gilt als die bedeutendste Wirtschaftsausstellung des Landes. Anscheinend besteht der Weißenanteil dort nicht nur aus rassistischen Hinterwäldlern, denn die Industrie- und Handelskammer von Santa Cruz sprach – eigentlich ein völlig normaler Vorgang – eine Einladung an den bolivianischen Präsidenten aus, an der Eröffnungszeremonie mitzuwirken. Da hatte sie allerdings die Rechnung ohne das "Bürgerkomitee" von Santa Cruz ("eine Art postmoderner Ku Klux Klan") gemacht, dessen Vorsitzender den Handelskammerpräsidenten beschimpfte und den eigenen Rücktritt ankündigte, falls die Einladung an Evo Morales nicht unverzüglich widerrufen werde. "Wir werden alle da sein, um zu verhindern, dass dieser Herr (gemeint ist der Staatspräsident) die Messe betritt", meinte er ernsthaft. Auf einem daraufhin einberufenen Treffen der "Versammlung der Crucenidad" (was man mit "Reinheit von Santa Cruz" übersetzen könnte), wurden die Betreiber von Evos Anwesenheit auf der Ausstellung als "Verräter, Verdammte und Ignoranten" tituliert, "die es nicht verdienen zu leben". Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, avisierte die Versammlung die Reise einer Abordnung nach Genf, um dort die eklatanten Menschenrechtsverletzungen, die Präsident Morales an den Ihren begangen haben soll (unter ihnen die Großgrundbesitzer, die nach Auffassung der UNO die Indigenas in einem Zustand der Halbsklaverei halten), zur Anklage zu bringen.
Evo sagte, um den Konflikt nicht zu schüren, seine Teilnahme an der Veranstaltung ab. Zwar qualifizierte er den Vorgang als "offene Diskriminierung", meinte aber: "Wo man mich nicht will, gehe ich nicht hin."
Ein Staatspräsident, dem von einer einflussreichen Gruppe arroganter Landsleute mittels unverblümter Drohungen Reisebeschränkungen in seinem eigenen Land auferlegt werden! Das muss man sich mal vorstellen.

Es ist in diesem Jahr im Osten Boliviens in einem einzigen blutigen Akt zur Ermordung von 18 MAS-Anhängern gekommen. Die mutmaßlichen Mörder, die noch in Untersuchungshaft einsitzen (unter ihnen Ausländer), gelten den – mehr als mutmaßlichen – Drahtziehern im Hintergrund als Helden, die als "politische Gefangene" sofort freigelassen werden müssten.
Diese grauen Eminenzen, die große Geldmittel besitzen und bewegen, machten Evos Mühen auf dem Wege zu einer verfassunggebenden Versammlung zur "Unendlichen Geschichte", indem sie keine Möglichkeit ausließen, gehörig Sand ins Räderwerk der ihnen so verhassten Entwicklung zu streuen.
Trotz allem: Evo Morales’ Wiederwahl Ende des Jahres ist selbst für die größten Optimisten unter denen, die sich als Kreuzritter "demokratischer Zivilisation gegen die andino-indigene Barbarei" empfinden, eine Formsache, die ohne physische Gewalt wohl kaum zu verhindern sein wird.

Der Titicacasee

Auf einer kleinformatigen Karte wirkt er fast rechteckig. 150 km lang, stellenweise 70 km breit. An einem dunstigen Tag (und deren gibt es viele in der Region), könnte man meinen, man sei am Meer. Er ist mancherorts auch bis zu 250 m tief. Seltsamerweise befinden sich keine großen Tiere in ihm. Forellen von 30 cm sind unter den Fischen bereits das Höchste der Gefühle. Das größte Viech, das jemals aus diesem See herausgezogen wurde, war eine Art Ochsenfrosch von 60 cm Länge. Eine Kuriosität: Es gibt Seepferdchen im Lago Titicaca, obwohl er nur zirka 1 % Salzwasser hat. Dieser geringe Prozentsatz ist – ungeachtet von Unwägbarkeiten wie Regen- oder Trockenheitsperioden, die mal mehr, mal weniger stark ausfallen – ziemlich konstant. Es scheint, als habe sich das Seepferdchen, eigentlich ein Tier des Ozeans, an diese extremen Bedingungen im Laufe undenkbarer Zeiträume angepasst. Woher dieses eine % Salzwasser kommt, darüber rätseln die Gelehrten. Vielleicht gibt es ja einen unbekannten unterirdischen Zugang zum Meer. Das ist nicht das einzige Mysterium in diesem See. So gibt es im Norden der Sonneninsel Überreste prähistorischer Baukultur 8 m unter der Wasseroberfläche!
Bolivien besitzt 40 % des Titicacasees und Peru 60 %. Die Bolivianer behelfen sich mit dem Witz, sie hätten die "Titi" und die Peruaner die "Caca" (was auf Vulgärspanisch tatsächlich "Kacke" heißt).

Diese Tour war die einzig größere, die wir neben einigen kleineren in der Nähe von La Paz unternahmen. Der Lago Titicaca, das größte Binnengewässer des ganzen südamerikanischen Subkontinents, beginnt etwa 100 km nordwestlich der Hauptstadt. Die erste Fühlungnahme des im Bus anreisenden Touristen mit diesem Riesensee geschieht nicht mit einem "Boah!" oder "Wow!", sondern eher schleichend. Irgendwann sieht man linker Hand einen Streifen Wasser liegen, dessen Ausläufer durch halbhohes Sumpfgras bis auf geschätzte 120 m an die Straße herankriechen wie Schlangen. Aus dem Streifen wird nach und nach eine respektable Fläche und dann gewahrt man plötzlich das andere Ufer nicht mehr. Es ist einfach weg. Nun spätestens weiß man, dass man da ist.

Das hübsche Städtchen Copacabana, das vom Namen her viel älter ist als der weltberühmte Strand von Rio, ist Ausgangspunkt der 1½stündigen Überfahrt zur "Isla del Sol" ("Insel der Sonne"), nach einheimischer Mythologie Geburtsort dieses nicht ganz unwichtigen Gestirns. Wir haben uns über die Reiseagentur in unserem Hostal in La Paz einen individuellen Führer gekauft: Reynaldo, "Eingeborener", wohnhaft in El Alto, Tourismusstudent, 27 Jahre.

Als er uns von der Anlegestelle aus die schöne Inkatreppe hochgeleitet, beginnen wir auf den Autor des Bolivienbuchs aus dem Verlag "Lonely Planet" zu fluchen. (Jeder, der dieses Land bereist, besitzt das verflixte Buch, wirklich JEDER). Von einem "kurzen Fußmarsch" zu den Unterkünften ist da die Rede, aber keineswegs davon, dass es senkrecht nach oben geht, wie es uns alsbald zumindest vorkommen will. Bei einer der immer häufiger werdenden Pausen dieses Aufstiegs lasse ich ins Gespräch einfließen, wie toll es wäre, jetzt einen Lastenesel zu haben. (Autos gibt es auf der ganzen Insel mangels Autostraßen nicht.) Reynaldo antwortet beiläufig, einen Esel könne er jetzt nicht so einfach hervorzaubern, aber er könne eine Frau fragen, die den gleichen Weg habe, ob sie uns – gegen ein kleines Entgeld – unsre Rucksäcke abnehme. Gesagt, getan. Der nächsten Indigena-Frau, stilecht mit Poncho und Bowlerhut, die an uns vorbei aufwärts steigen will, wird der Vorschlag unterbreitet. Sie verlangt 10 "Bolis", wir geben ihr 20; sie schlägt wortlos unsere beiden Rucksäcke in eine Decke, die sie sich um den Hals bindet, stiefelt los und ist in Nullkommanichts außer Sichtweite. Wir kommen uns vor wie die letzten Kolonialistenärsche. Als wir, wesentlich erleichtert, aber dennoch schwer atmend, an unserem Hotelchen recht nahe dem höchsten Punkt der Insel (wegen der Aussicht) ankommen, liegt unser Gepäck längst vor der Tür. Wie lange schon, schäme ich mich zu sehr zu fragen. Diese Leute müssen völlig andere Lungen haben als wir!
Na gut: wir befinden uns wieder einmal jenseits der 4000-m-Marke, aber als Entschuldigung lasse ich das inzwischen nicht mal mehr vor mir selber gelten.

Das Panorama, das wir von unserer bescheidenen Bleibe aus haben, spottet allerdings jeder Beschreibung. Es entschädigt für alles! 200 m über dem Wasser überblicken wir eine Bucht nach Westen hin mit einem kleinen Leuchtturm am Ende einer spitz zulaufenden Halbinsel, hinter der, irgendwo über die Horizontlinie hinaus, der Pazifik liegen muss. Uns erscheint es, als hätten wir ihn bereits vor uns – so majestätisch und gewaltig wirkt der See.

Reynaldo nimmt unsere Abendessenswünsche entgegen und begibt sich in die Küche, um sie weiterzugeben. Wenig später kommt er – hilflos die Arme verwerfend – zurück, um uns zu sagen, es sei niemand mehr da. Unmittelbar nach Schlüssel- und Handtücherübergabe haben die Hotelangestellten sich offenbar zum Dorffest aufgemacht. Die örtliche Schule feiert ein rundes Existenzjubiläum und jegliche lebende Seele im Dorf hat sich dort eingefunden, um mitzufeiern. Es ist zwar später Nachmittag, aber durchaus noch hell. Trotzdem können wir einigen Trekking-Touristen, die uns nach einem Dach über dem Kopf ansprechen, lediglich mitteilen, die Fremdenverkehrsbranche habe sich, scheint’s, für heute verabschiedet.
Natürlich gucken wir uns, neugierig geworden, dieses Schulfest an. Wir fotografieren es nur aus der Entfernung. Von dem Augenblick an, da wir uns, für viele sichtbar, als ungebetene Zaungäste über die Mauer lehnen, fotografieren wir nicht mehr.
Die Kinder vergnügen sich auf dem Spielplatz. (Alle Kinder, auch die kleinsten, tragen, wie immer am Tag, breitkrempige Hüte aus Jeansstoff gegen die Kraft der Sonne in dieser Höhe.) Unter den Erwachsenen – sie übertreffen die Kinder zahlenmäßig bei weitem – sind müßige Zuschauer in der Minderzahl; die meisten musizieren oder tanzen.
Die Tänzer tragen farbenprächtige Kostüme und (augenscheinlich schwere) Tiermasken aus nicht näher zu bestimmendem Material, zumeist Stierköpfe, so groß, dass sie ihnen bis auf die Schultern ragen. Die Musikantengruppen, an den Stirnseiten des Schulhofs je eine, wechseln einander ab, sodass die Tänzer eigentlich nie zur Ruhe kommen.

Die monotone Melodie klingt uns seltsam vertraut, und plötzlich erinnert sich Renate auch, woher. In dem bolivianischen Spielfilm "Die geheime Nation", den wir vor einigen Jahren im Fernsehen sahen, zieht sich ein junger Mann, Angehöriger einer dörflichen Gemeinschaft mit strengem Ehrenkodex, durch unrühmliches Verhalten und totale Abkehr von den Traditionen die persönliche Entehrung durch sein Dorf zu. Seine einzige Möglichkeit, als er nach Jahren in La Paz wieder reuig zum Dorf zurückkehrt, Respekt und Achtung seiner früheren Nachbarn wiederzuerlangen, besteht in einem grausamen Ritual, dem er sich freiwillig unterwirft: darin, mit einer noch riesigeren Maske bis über die totale Erschöpfung hinaus, also bis zum Tod, zu tanzen – nach genau der gleichen Musik, die wir jetzt hören.

Wir machen uns nicht die Sorge, hier zu Zeugen eines rituellen Massensuizids zu werden. Leere Kästen legen vielmehr den Verdacht einer Alkoholorgie nahe. Reynaldo hat zum Glück Beziehungen zur Wirtin eines Gasthauses, das den Betrieb nicht vollends eingestellt hat. Dort haben wir die Wahl zwischen Forelle und Hühnchen, jeweils immerhin in vier- bis fünffacher Ausführung. Wir werden im Laufe unseres Aufenthalts feststellen, dass diese beiden Tiere die einzigen Optionen sind, die wir an warmen Mahlzeiten haben. (Forelle und Hühnchen können die Sonneninsulaner aber wenigstens gut.)
Wir werden auch lernen, keine über das Frühstück hinausgehenden Ansprüche an das Hostal zu richten. Sein Zimmer aufgeräumt zu kriegen, kann man sich da zum Beispiel knicken! Ob der Fremdenverkehr sich hier im Windelstadium befindet und die Leute noch üben oder ob sie irgendwann beschlossen haben, nie über dieses Stadium hinauskommen zu wollen, wissen wir nicht. Wir finden die improvisierten Bemühungen der Besatzung aber derart rührend, dass wir sie später in La Paz nicht als unfähig denunzieren. Vielmehr sind wir dort voll des Lobes über den Service.

Die Menschen verstehen Spanisch, antworten dir auch auf Spanisch (wenn es sich denn nicht vermeiden lässt), aber untereinander sprechen sie nur Aymara. Sie sehen samt und sonders so pittoresk aus, als wären sie der ITB (Internationale Touristikbörse) in Berlin entsprungen, und doch ist nichts davon gestellt; alles ist echt.
Sie grüßen dich lächelnd, wenn du ihnen begegnest, denn sie machen dir persönlich nicht 500 Jahre Ausbeutung zu Vorwurf, aber interessieren tust du sie nicht wirklich – nicht einmal dein Geld. Das Maß, in dem du ihr Leben beeinflusst, ist nicht mehr als eine marginale Größe. Sie arrangieren sich achselzuckend mit den Gegebenheiten und machen ihr eigenes Ding. Hierbei tragen sie eine gelassene Würde zu Schau, die man von kaum einem anderen Volk der 3. Welt kennt.

Am nächsten Tag sieht unser Programm die Besichtigung eines kleinen Inkatempels vor, der sich vielleicht 15 m über dem Wasser befindet. Gestern, bei der Hinfahrt, haben wir ihn aus nicht allzu großer Entfernung links von uns gehabt. Das bedeutet allerdings: Wir müssen fast wieder ganz nach unten – und später wieder rauf! Glücklicherweise nicht über die verfluchte Treppe, sondern über eine Art Feldweg. Die Strecke ist natürlich länger, aber steinige, steile Passagen sind selten. Den Rückweg bewältigen wir dann viel schneller als erwartet. Unsere Kondition wird merklich besser. Unterwegs könnte man aus jedem Verschnaufausblick eine Ansichtskarte machen. Die Anbauflächen dieser Insel sind so exakt terrassenförmig angelegt, dass sie optisch nur noch von den Reisfeldern auf Bali übertroffen werden.
Nach einer Mittagsrast (in dem netten Lokal, das uns am Abend zuvor vor dem Verhungern rettete) bewältigen wir die restlichen 70 Höhenmeter bis zum Scheitelpunkt der Isla del Sol sehr gemütlich. Von dort aus überblickt man die Insel und den See nach allen Seiten. Sogar der Illampu (6362 m), der den Titicaca beherrscht, zeigt sich heute klar und deutlich, was wir vom Illimani (6439 m), der – wie man sagt – als Hausberg über La Paz thront, leider nicht aus eigener Anschauung behaupten könnten, obwohl wir da nun wahrlich ein paar Chancen mehr hatten ...
Wir verbringen den Abend an gewohnter Stelle. Mich zieht es nach zwei "Truchas" (Forellen) diesmal zu den Flügeln, während meine Frau beschließt, den Flossen treu zu bleiben. Das mag ein jeder mit sich selbst ausmachen. Wir trinken bolivianischen Rotwein und haben diesmal – als Wiederholungsgäste – sogar das Privileg, uns an ein paar glimmenden Scheiten im Kamin wärmen zu können.

Reynaldo, unser Reiseführer, hat inzwischen einiges von der gewohnten Reserviertheit seines Volkes abgelegt. Wir reden offen miteinander. Er macht keinen Hehl daraus, dass es ihn freut, dass Evo Morales – Aymara wie er – nun Präsident ist. Auch Hugo Chavez und Rafael Correa dünken ihn gute Leute. Zu Fidel Castro hat er indessen schon die eine oder andere Frage, die wir ihm gerne beantworten. Obwohl er nun die "unabhängigen Fernsehkanäle" sieht, hat er in punkto Cuba noch Nachholbedarf. Wir bemühen uns, den bürgerlichen Bodensatz in seinem Hirn in Turbulenzen zu bringen. Das ist schließlich, in Oberhausen-Osterfeld ebenso wie am Titicacasee, unser Job, – vorausgesetzt natürlich, dass man den Adressaten nicht "von zu weit her" holen muss. Renate hängt sich da wesentlich stärker rein als ich, der ich nach anderthalb Stunden Tabakabstinenz das Bedürfnis habe, meiner Sucht zu frönen. Öffentliche Räume von Rauch zu befreien, ist in Bolivien bis dato rigoroser gelungen als in Deutschland. Die einzige Ausnahme ist der Aufenthaltskorridor zu den Inland-Gates im Flugplatz von Santra Cruz de la Sierra. Der Himmel mag wissen, warum ausgerechnet da.
Apropos Himmel: Der Sternenhimmel über mir, als ich nach draußen trete, ist in seiner Fülle und Nähe höchstens zu vergleichen mit dem, den wir am Kilimandscharo einmal sahen. Vor Unfähigkeit, den Blick abzuwenden, riskiere ich eine Genickstarre.
Vom Knüppelpfad rechts neben mir, der im Stockdustern liegt, höre ich plötzlich Geräusche. Zunächst tauchen zwei Esel auf, danach fünf oder sechs Schafe und schließlich zwei Frauen, die eine winzige Leuchtdiode an eine Babybatterie angeschlossen haben.
Ein ebensolches Rudiment einer Taschenlampe wird kurze Zeit später auch uns dabei helfen, die hundert Meter zu unserem Zimmer zurückzufinden. Cuba mag ja als lichtarm berüchtigt sein, doch im Vergleich zu diesen Verhältnissen ist es das reinste Las Vegas!

Die Rückfahrt treten wir dank Reynaldos Umsicht nicht in dem eigentlich vorgesehenen Boot an, sondern in einem früheren, das eher für Einheimische gedacht ist. Wir vermeiden dadurch, jener recht arroganten holländischen Reisegruppe wieder zu begegnen, mit der die Hinfahrt zu verbringen wir das zweifelhafte Vergnügen hatten.
Diese Insider-Bootsfahrt, auf der wir Fremdkörper sind, ist freilich ein Ding für sich. All die Indigenas stören uns nicht. Gott bewahre! Da kann man interessante Studien machen. Es ist ein wenig so wie bei den Muslimen. Die Männer sitzen im Bug beisammen. Die Frauen und Kinder, die sich beträchtlich in der Überzahl befinden, besetzen den mittleren und hinteren Teil des zirka 10 m langen Schiffes. Unter den Frauen sind vier stillende, entweder neben mir oder mir gegenüber. Ich weiß gar nicht, wo ich hinschauen soll! Die Kleinkinder, zwischen 3 und 5 Jahren, drücken ihre Popos über die niedrige Heckbalustrade und halten sich mit ihren Händchen nachlässig an den Metallrohren fest. Ein kurzer Schlenker, und sie lägen draußen. Die jungen Mütter (nicht identisch mit den Stillenden) die wohl mit Frauengesprächen befasst sind, kümmert das einen feuchten Kehricht. Diese oder jene von ihnen wäscht sich manchmal die Hände zwischen den Schrauben der beiden Außenbordmotoren. Man könnte vom bloßen Zusehen einen Schreikrampf bekommen! Durch die kaum glaubliche Menge ausgetrunkener Bierkisten mittschiffs (vom Schulfest her) befinden wir uns überdies die ganze Zeit kurz vor dem Kentern. Es sind maximal 10 cm zwischen Wasserfläche und Deckplanken. Am Ende ist nichts passiert. Das Boot nicht kieloben, kein Kind verschütt und alle Finger noch dran. Aber wie durch ein Wunder!

Ein unfertiges Fazit

Wir haben vieles nicht sehen können, was wir noch gern gesehen hätten: die amazonische Region zum Beispiel oder den großen Salzsee nahe der Atacamawüste.
Die Yungas (noch in der Provinz La Paz) ebenfalls. Es handelt sich um eine Zone mit einer Art Mikroklima, die auch in Kältezeiten noch schwülwarm ist. Leider lässt sie sich nur über die "Gefährlichste Straße der Welt" erreichen, wo es auf der einen Seite lotrecht nach oben und auf der anderen lotrecht runter geht. Fremdenverkehrsposter werben mit durchgeknallten Typen, die schräg über dem Abgrund balancierend dem Betrachter die Zunge herausstrecken. Aus dem Alter für solche morbiden Scherze sind wir wirklich raus und genau besehen hatten wir dieses Alter nie.
Eines Morgens saßen wir beim Frühstück, und am Nebentisch waren vielleicht fünf deutsche Jugendliche um die 20 versammelt, die sich gegenseitig erzählten, in welch haarsträubenden Situationen sie sich schon befunden hätten: Söhne und Töchter wohlhabender Eltern, die von deren Gnaden im Besitz von genug Knete waren, sich diesen Luxusnervenkitzel rund um den Globus leisten zu können. Es hörte sich so ähnlich an, wie wenn unsere Opas, als WIR noch jung waren, Anekdoten aus dem Krieg austauschten. Mit irgendwelchem Wissenserwerb über andere Kulturen hatte das jedenfalls nichts zu tun; es ging lediglich um den "Kick", den sich weniger Betuchte virtuell bei Computerspielen holen.

Wir (zeitlich UND finanziell eingeschränkt) hatten uns bei der Planung unserer Reise gesagt: Wenn wir dieses Land – und dieses Volk – auch nur ansatzweise verstehen wollen, benötigen wir einen Fixpunkt, zu dem wir immer wieder zurückkehren und an dem wir die meiste Zeit verbringen, um zumindest so etwas Ähnliches wie Vertrautheit aufbauen zu können. Für uns war das La Paz.
Bolivien ist ein Land, in dem man sich als Reisender wohlfühlen kann, aber nicht zu Hause. Die Bewohner vermitteln Fremden das Empfinden, als sei Angenommensein ein Privileg, das man sich erst verdienen müsse. Oder, besser gesagt: WIR nehmen das Verhalten dieser Leute so wahr, weil wir – um unseren eigenen Bauchnabel kreisend – versuchen, ihr Benehmen auf uns zu beziehen.
Die Wahrheit ist aber vermutlich viel ernüchternder: Diese Menschen sind einfach derart weit weg von uns, dass es ihnen herzlich egal ist, was wir von ihnen denken. Oder, noch ein wenig drastischer formuliert: Wir. Sind. Nicht. Wichtig.
Nur wer das gleichsam wie ein Mantra vor sich hersagt, hat eine Basis für Lernzuwachs beim nächsten Mal in diesem faszinierenden Land geschaffen.
Ob es für uns so ein nächstes Mal geben wird, damit wir dann ein bisschen mehr kapieren? Ja, schon. In ein paar Jahren vielleicht. Es eilt nicht.
Andererseits ...
Was mich einen Zentimeter breit zwischen Daumen und Zeigefinger beunruhigt, ist, dass ich, obwohl wir mittlerweile fast einen Monat zurück sind, beim Kochen, beim Abspülen, beim Vorbereiten von Unterricht und beim Schreiben nichts anderes hören kann als die Musik des Altiplano: Panflöten, Gitarren, Mandolinen und das Pfeifen eines schneidend kalten Windes. Dabei habe ich mich redlich bemüht, wieder mal Pop, Klassik oder Jazz an mich ranzulassen. Es funktioniert nicht. Es klappt ja – zu meinem Erschrecken – nicht mal mehr mit cubanischer Musik. NOCH nicht, wie ich hoffe.
Aber es ist schon eine lohnende Erfahrung, sich einer Sehnsucht bewusst zu werden über den Umweg der Erkenntnis, plötzlich ganz normale Dinge nicht mehr tun zu können ...

Logo CUBA LIBRE Ulli Fausten

Bolivianische Impressionen - Teil 1, CUBA LIBRE 4-2009