Das Überleben des heutigen kubanischen Films vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise am Beispiel von: La vida es silbar (1998)

Kuba durchlebt ohne Frage die schwerste Wirtschaftskrise seit der Revolution von 1959, die von der Bevölkerung ein erhebliches Maß an Opferbereitschaft verlangt. Unter dem Druck dieser Krise ist die Insel zu einer radikalen Umstrukturierung ihres Wirtschaftsmodells gezwungen, die neben einer Neuorientierung des Außenhandels auch Maßnahmen zur Steigerung von Produktion und Produktivität berücksichtigen muss.

Die Regierung reagierte auf die Krise mit einem Notstandsprogramm (período especial), das notwendige Anpassungen an die neue Situation vornehmen wollte, ohne das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem als solches anzutasten oder die Sozialleistungen abzubauen, wie dies normalerweise bei wirtschaftlichen Strukturanpassungsprogrammen der Fall ist. Erste Notstandsmaßnahmen wurden im Spätsommer 1990 getroffen, wobei unter anderem die Frequenz des Autobusverkehrs in Havanna um zwei Drittel vermindert wurde. Am 26. Juli 1993 zum 40. Jahrestag des Angriffs auf die Moncada-Kaserne, der in Kuba al Beginn der Revolution gilt, verkündete Staatschef Fidel Castro die Legalisierung des US-Dollars auf Kuba. Die Freigabe des Dollars bedeutet gerade wegen ihrer hohen Symbolkraft einen tiefen wirtschaftspolitischen Einschnitt. Diese Konzession an die Währung der Weltmacht verletzt das nationale Selbstbewusstsein der Revolution. Darüber hinaus bedeutet sie eine fundamentale Veränderung der wirtschaftlichen Grundregeln auf der Insel (Hoffmann, 1994, 7).

Konnte Kuba die Folgen des US-Embargos über lange Jahre durch die Einbindung in die Wirtschaftsgemeinschaft der sozialistischen Staaten auffangen, war der Preis dafür eine extreme Abhängigkeit von diesen. Umso verheerender wirkt sich das Embargo, eine immer aggressivere Politik der US-Regierung, seit dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion aus (Hoffmann, 1994, 13)

Seitdem ist Kuba ganz auf sich gestellt. Da diese Krise nun schon mehrere Jahre andauert und kein ende in Sicht ist, mangelt es mittlerweile an fast allem: Benzin, Strom, Seife, Essen etc. Um so erstaunlicher ist die Entstehung von filmen auf der Insel, wenn man bedenkt, dass das Filmemachen sich immer als ein äußerst schwieriges und teures Unternehmen erwiesen hat. So ist es nur nachvollziehbar, dass es Regisseur Fernando Pérez fast als ein Wunder bezeichnet, 1998 in Kuba den Spielfilm La vida es silbar gedreht zu haben:

"Ich fühle mich privilegiert, weil es sehr schwierig ist, einen Film zu machen, aber nicht nur für die kubanischen, sondern auch für viele andere Filmemacher. Das Kino ist eine immer komplizierter werdende Investition, und wenn jemand nicht mitten im System steht, ist es noch schwieriger. (…) Für mich ist es ermutigend zu sehen, dass die Filmindustrie (hier: das ICAIC) überlebt hat" (Conquero, 1998).

Welches Ausmaß die materielle Krise des Landes hat und wie sie sich auch auf die Filmproduktion auswirkt, zeigte sich beispielsweise dadurch, dass auf dem 20. Filmfestival in Havanna unter den 50 Wettbewerbsfilmen aus 11 lateinamerikanischen Ländern in der Spielfilmkategorie nur zwei aus Kuba zu finden waren: Che von Miguel Torres und La vida es silbar von Fernando Pérez.

Vor dem Hintergrund dieses wirtschaftlichen Debakels werden kubanische Filmemacher gezwungen, andere Alternativen zu finden, die ihnen die Fortführung der Filmproduktion ermöglichen. Nach der Überzeugung von Díaz Torres muss man mit internationalen Partnern in der Form von Coproduktionen zusammenarbeiten (Grosskopf, 1998). Coproduktionen sind für die Entstehung von Spielfilmen notwendig: Ökonomische und technische Ressourcen werden geteilt, potentielle Märkte verdoppelt. Die Coproduktion ermöglicht die Teilnahme von mehreren Ländern an einem bestimmten Filmprojekt, so dass Länder mit einer höher entwickelten Filmindustrie mit solchen auf einem niedrigeren Niveau zusammenarbeiten können.

Erfolgreiche Beispiel dafür sind Fresy y chocolate (Kuba/Mexiko/Spanien, 1993) und Tropicanita (Kuba/Deutschland, 1997). Den Einstieg in die internationale Coproduktion schaffte Dáz Torres durch den deutschen Medienkonzern Bertelsmann. Sein Film Tropicanita, die Geschichte vom Deutschen auf Kuba, wurde zu einem Drittel von der Bertelsmann Media Group (BMG) produziert. Auch La vida es silbar konnte nur mittels eine spanischen Produktionsfirma und wesentlicher finanzieller Zuschüsse aus Japan realisiert werden.

Die Filme der 90er Jahre, die während der período especial entstanden und durch diese schwierigen Lebensbedingungen, die Infragestellung des Systems (Alica en el pueblo de las maravillas von Díaz Torres, 1990) sowie den schmerzhaften Exodus von Kubanern (Reina y rey von García Espinosa, 1994) charakterisiert sind, greifen erstaunlicher- und intelligenterweise auf Humor (Fresa y chocolate von Alea Gutiérrez und Tabío, 1993), einheimische Musik (Zafiros, locura azul von Manuel Herrera, 1997), Spannung (Tropicanita von Dáz Torres, 1997) und Melodram (La vida es silbar von Pérez, 1998) zurück.

Denn nur einfühlsame, aufmunternde und lebensfrohe Filme wie Fresa y chocolate und La vida es silbar können den Ansprüchen des durch die desolate Alltagssituation schwer belasteten Publikums gerecht werden. Filme wie Guantanamera (1995) vom Altmeister Gutiérrez Alea thematisieren die äußerst präkeren Lebensbedingungen der Bevölkerung aus einer humorvollen und zugleich kritischen Perspektive. In Gutiérrez Aleas Film geht es darum, nicht nur die Kapriolen der neuen Planwirtschaft mit Seitenhieben zu zeigen, sondern vielmehr wie die Kubaner trotz dieser unerträglichen Situation den vitalen Optimismus nicht verlieren.

Der intakte Wille, sich bei Unannehmlichkeiten im Alltag die Freude nicht verderben zu lassen, ist eine wichtige Konstante in den Werken von Fernando Pérez (Hello Hemingway, 1990; Madagaskar 1994), dessen letzter Film La vida es silbar sowohl im eigenen Lande als auch im Ausland große Sympathien genießt und zu den Meilensteinen nicht nur des kubanischen, sondern des gesamten lateinamerikanischen Kinos gehört (Krebs, 1999; Ruggle 1999). Er erhielt 1998 neben dem Premio Coral für den besten Film des Festivals des Neuen Lateinamerikanischen Kinos in Havanna auch erste Preise in den Kategorien Kamera (Raúl Pérez Ureta), Regie und beste Nachwuchsschauspielerin (Claudia Rojas).

Es war seit 1993 das erste Mal, dass wieder ein kubanischer Spielfilm beim Festival in Havanna einen derartigen Triumph erlebte.Damals war es der Film Fresa y chocolate von Gutiérrez Alea und Tabío, der wegen seiner Auszeichnungen und weltweiter Resonanz ein Desaster, nämlich die Auflösung des staatlichen Filminstituts verhinderte und die Hoffnung auf die weitere Existenz des ICAIC bekräftigte.

Der 54jährige Fernando Pérez, geboren 1944 in Havanna, studierte an der Universität der kubanischen Hauptstadt Sprach- und Literaturwissenschaften. Einige Jahre profilierte er sich als Filmkritiker für die bekannte Filmzeitschrift Cine Cubano. Für seinen Augenzeugenbericht Correspondales de Guerra über die jungen Filmemacher, den den Sandinistischen Kampf gegen Somoza dokumentierten, bekam er den renommierten Literaturpreis Casa de las Américas. In den Jahren 1979 bis 1982 war Pérez unter der Leitung von Satiago Alvarez als Produzent der Kinowochenschau Noticiario ICAIC Latinoamericano tätig. Pérez leitet neben seiner Arbeit als Regisseur und Schriftsteller filmwissenschaftliche Kurse an der Universität in Havanna.

Sein Film La vida es silbar thematisiert die Suche nach dem Glück im Leben am Ende des 20. Jahrhunderts schlechthin, was dem Film einen universellen Charakter verleiht. Gleichzeitig erscheint La vida es silbar als Plädoyer für Toleranz und Respekt vor dem Anderssein des Mitmenschen. Damit erweist Pérez seinem Mentor und Lehrmeister, dem 1996 verstorbenen Gutiérrez Alea, eine würdige Hommage. Wenn Pérez in seinem Film La vida es silbar flanierende Kubaner am Malecón beim Hören von Worten wie "Freiheit", "Doppelmoral" oder "Wahrheit" in Ohnmacht fallen lässt, zeigt er, dass sich mit absurdem und schwarzem Humor – häufiges Stilmittel der Filme von Gutiérrez Alea – Kritik ebenso wirkungsvoll üben lässt, wie in halbdokumentarischen Filmen mit einer stark politischen Komponente. In dieser Hinsicht hat Pθrez mit seinem Film den Bruch vom klassisch-realistischen kubanischen Kino der 60er Jahre zum poetisch-metaphernreichen Film vollzogen.

In seinem Film entwickelt Pérez drei parallele Geschichten dreier Personen aus dem real existierenden Alltag des heutigen Havanna, die durch die feenähnliche Frauengestalt Bebé (Bebé Pérez) kunstvoll miteinander verzahnt werden. Die Erzählerin Bébe will den drei Protagonisten zu mehr Lebensfreude verhelfen, denn für sie steht fest: das Geheimnis des Glücks heißt "pfeifen". Verbunden sind alle Hauptcharaktere durch denselben Ausgangspunkt: sie wuchsen als verlassene Kinder im Waisenhaus auf, wo sie mit Worten wie "Gleichheit" indoktriniert wurden.

Der Mulatte Elpidio (Luis Alberto García), Musiker und Anhänger der afrokubanischen Santería-Religion, schlägt sich als Fischer und Schmarotzer an Havannas Uferpromenade durchs Leben. Er leidet darunter, dass er als Kind von seiner Mutter- mit dem symbolischen Namen Cuba – verlassen wurde, weil er ihren Vorstellungen nicht entsprach: seither lebt er in der Erwartung eines Zeichens von ihr. Statt seiner Mutter (seiner Heimat) trifft er indessen auf die ausländische Umweltaktivistin Chrissy (die Fremde), die mit einem Heißluftballon in Havanna gelandet ist und ihn überzeugen will, mit ihr ins Ausland zu gehen. Er gerät deshalb in das reale Dilemma, zwischen seiner Heimat und dem Ausland wählen zu müssen.

Mariana (Claudi Rojas), die europäischstämmige Balletttänzerin, ist eine passionierte Frau, die einerseit die Körper junger Männer begehrt, andererseits ständig eine Kreuzkette trägt. Sie arbeitet mit großer Disziplin an ihrer Karriere und träumt davon, einmal die Rolle der "Giselle" tanzen zu können. Um diesem Ziel näher zu kommen, gelobt sie sexuelle Enthaltsamkeit, verbietet sich die Liebe zu ihrem Tanzpartner Ismael – hier fungiert der Film als telenovela – und stürzt in eine tiefe Lebenskrise.

Julia (Coralia Veloz), eine aufopfernde Pflegerin in einem Altersheim, leidet unter unerklärlichen Gähnanfällen, schläft sogar ein, als ihr besonderer Einsatz fürs Allgemeinwohl ausgezeichnet werden soll, und fällt immer dann in Ohnmacht, wenn sie das Wort "Sex" hört. Eine Arbeitskollegin überredet sie zu einer Therapie beim Psychologen Fernando, der ihr bei der Aufarbeitung ihres Traumas hilft. Darüber hinaus tröstet er sie damit, dass andere Leute in Ohnmacht fallen, wenn sie Worte wie "Freiheit" hören. Dieses weitverbreitete Symptom ist die politisch geprägte Metapher, mit der Pérez den herrschenden Mangel an Selbstinitiative, die gängige Verdrängung der Wahrheit, den manchmal ausufernden staatlichen Paternalismus und die Angst, mit den steifen Konventionen zu brechen, veranschaulicht.

Am Schluss des Films treffen diese drei ethnisch, religiös und kulturell verschiedenen Figuren auf Havannas Plaza de la Revoción zufällig aufeinander und beginnen zu pfeifen: Pérez lässt seinen Charakteren Elpidio, Mariana und Julia ganz einfach auf einengende und erdrückende Lebenskonventionen "pfeifen", d.h., sie begreifen, dass sie ihr Leben selbst bestimmen müssen. "Die Lösung liegt bei ihnen selbst, es gibt keine Macht, die für sie etwas regeln und ihre Probleme lösen kann", erklärte Pérez auf der Pressekonferenz im Anschluss an die Filmpremiere (www.freitag.de)

La vida es silbar erweist sich als bester aktueller Beitrag für die Vitalität, Originalität (etwas, das die US-Megaproduktionen längst verloren haben) und das Überleben des heutigen kubanischen Films vor dem Hintergrund der schwersten Wirtschaftskrise seit der Revolution.

Quellenhinweise:
Conquero, Dolores, in El País, 29.11.1998.
Grosskopf, Monika: "Kubas Kino macht wieder von sich reden – Einheimische Regisseure setzen mit Geschick auf internationale Koproduktionen", in: Die Welt, 01.07.1998.
Hoffmann, Bert (Hrsg.): Wirtschaftsreformen in Kuba, Konturen einer Debatte, Frankfurt a.M. 1994.
Krebs, Geri: "Die Revolution ist Leben, Pfeifen, filmen. Fernando Pérez' La vida es silbar – ein poetisches Märchen aus Havanna", in Neue Züricher Zeitung, 04.11.1999
Ruggle, Walter, in www.trigon-film.ch

Weitere Internetadressen:
www.cinamacubano.cu
www.freitag.de/1999/02/015.htm
www.pegasosfilm.de
www.is-koeln.de/matices/21/21kuba.htm


CUBA LIBRE Claudia Carezón Doty

CUBA LIBRE 2-2000