Eindrücke vom "11. Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos" in Havanna

Havanna, Anfang Dezember. Am Flughafen José Martí merkt man noch nicht viel von der kreativen Unruhe, die die Stadt jedes Jahr zur Festivalzeit erfaßt.

Die Uhr zeigt morgens um 3:00, das Warten auf's Gepäck erfordert nochmal Geduld, und die Erwartungen auf die kommenden "kinamatographischen Highligts" des lateinamerikanischen Film reduzieren sich zu diesem Zeitpunkt auf einige einzige Sache: nur noch ins Bett.

Früher oder später erfaßt einen dann doch diese fieberhafte Geschäftigkeit, frau und man wird auch Bestandteil dieses Treibens um das Festival, das seine festen Riten, Abläufe und Eigenarten entwickelt: zum Morgenkaffee trifft man sich im Garten des Hotels Nacional, studiert Kritiken aus der "Granma", der "Tribuna" oder dem "Trabajadores", führt Fachgespräche und Interviews mit Filmschaffenden. Später pendelt man dann zwischen Vorträgen, Pressekonferenzen und Filmvorführungen, die an verschiedenen Orten und Kinos der Stadt ablaufen, quetscht sich – ebenso wie die Habanaeros und Habaneras – in einen vollen "guagua", um noch pünktlich die fünf-Uhr-Vorstellung im "Cine Yara" zu erreichen, legt dann vielleicht eine Verschnaufpause in der "Coppelia" ein, am Abend auf jeden Fall noch in die Spätvorstellung ins wunderschön renovierte "Chaplin" am Ende der "Rampa", der Busdienst bringt dann die Nimmermüden ins Casino "Cristino Naranjo", wo der allabendliche Abtanz bis zum Morgengrauen stattfindet. Hier treffen sich nicht nur die FestivalteilnehmerInnen, sondern vor allem die jungen, selbtsbewßten "Trendsetter" der Generation der 18-25jährigen Cubanerinnen und Cubaner. Unter den Rhythmen der besten Musikgruppen Cubas (von Los Van Van, Irakere, Sandoval, Rumbavana zu N.G. La Banda) genießen die Jugendlichen das Flair der "Weltstadt", das Havanna in diesen Tagen ausstrahlt. Das kulturelle Rahmenprogramm des Festivals ist wirklich beeindruckend umfangreich und reicht von experimentellen Tanztheater, über Ausstellungen junger bildender Künstler bis zu den afrocubanischen Performances von Manuel Mendive. Für das kulturinteressierte cubanische Publikum ist die Wahrnehmung häufig mit viel Geduld in der "cola" - auch ein Zeichen des großen Interesses – verbunden. Darüberhinaus bietet das Festival die Möglichkeit, sich mit den neuesten Entwicklungen im lateinamerikanischen Film auseinanderzusetzen.

Allerdings wird diese zweiwöchige Marathonschau der jüngsten lateinamerikanischen Film- und Videoproduktionen wohl nicht als "Festival filmischer Höhepunkte" in die Annalen eingehen. Darüber kann auch die stattliche zahl von 253 Videoproduktionen, 252 Fernsehfilmen und 177 Dokumentar – und Spielfilmen nicht hinwegtäuschen. Von einer heftigen künstlerischen Debatte wie im Vorjahr zwischen "Sur" und "La boca del lobo" (Wolfsrachen) war 1989 wenig zu spüren. Vielmehr hinterließ das Festival aus kinematographischer Sicht beim Betrachter den gleichen Eindruck wie das cubanische Wetter im Dezember: wechselhaft und kühl.
Die Organisatoren des Festivals sollten sich fragen lassen, ob eine Vorauswahl der Filme dem Festival nicht eine qualitative Verbesserung bringen würde. Selbst dem eifrigsten Kinogänger fällt es bei einer solchen Menge schwer, einigermaßen den Überblick zu wahren, zumal die Organisation wenig Orientierungshilfen bietet: dass Wettbewerbs- und Rahmenprogramm erscheint erst am jeweiligen Tage, Zusammenfassungen oder ergänzendes Material sind nur teilweise erhältlich und die Programmstruktur ist weder zeitlich noch inhaltlich aufeinander abgestimmt. Manches Kinoerlebnis verdankt man einem zufällig gesehenen Plakat das von den Filmschaffenden selbst gemalt und im Fahrstuhl oder im Foyer des Hotels aufgeklebt wurde. Die Quantität der Produktionen konnte aber nicht die bedrohliche wirtschaftliche Krisensituation der lateinamerikanischen Kinoindustrie verdecken. Auslandsverschuldung und Staatsbankrott gefährden mittlerweile die gesamte Kinoindustrie einiger Länder. So wurden beispielsweise in Argentinien, das sonst rund 120 Spiel- und Fernsehfilme im Jahr produzierte, 1989 ganze zwölf Filme fertiggestellt. Zuschauerverluste und gesperrte staatliche Subventionen verschärfen diese dramatische Entwicklung. Die staatliche geförderte Filmindustrie Cubas ist von dieser Entwicklung bisher verschont geblieben, da die ausgaben trotz angespannter ökonomischer Lage bisher nicht reduziert wurden. Allerdings wurde bei den Produktionen des ICAIC des vergangenen Jahres verstärkt auf eine Kooperation mit ausländischen Produzenten gesetzt, was nicht unbedingt zur Erhöhung der Qualität beiträgt, da Verkaufsinteressen häufig im Vordergrund stehen.

Trotzdem kam einer der politisch wichtigsten und filmästhetisch interessantesten Filme aus Argentinien: "Ultimas imagenes del naufragio" (Letzte Bilder des Schiffbruchs) von Eliseo Subiela, der sich bereits mit 2Hombre mirando al sudeste" (Der Mann, der nach Südosten schaut) als Regisseur einen Namen gemacht hat. Mit seiner jüngsten Arbeit ist Subiela ein vielschichtiges Werk gelungen, das sich den Existenzängsten des Individuums ebenso nähert, wie der Frage nach der Zukunft lateinamerikanischer Gesellschaften. Zum Inhalt: Roberto, frustrierter und selbstzweifelnder Versicherungsvertreter, flüchtet sich in die Schriftstellerei, um der lähmenden Routine seines Lebens zu entfliehen. In einem U-Bahn-Schacht lernt er Estela kennen, die gerade Selbstmor verüben will und kann sie davon abhalten. Zwischen beiden entspannt sich ein dichter werdendes Netz aus Nähe und Distanz. Roberto, der das leben Estelas in einem Roman verarbeiten möchte, lernt so auch die seltsame Familie der Frau kennen: jeder ihrer drei Brüder ist auf der Suche, hält sich an vagen Hoffnungen oder Utopien fest, während sich die alte Mutter halsstarrig an die Vergangenheit klammert. In dieser desolaten menschlichen Gemeinschaft liegen Fantasie, Wahnsinn, Gewalt und Brüchigkeit von Utopien dicht beieinander. In ästhetisch professionellen und epischen Bildern spiegelt Subiela die Realität, den gesellschaftlichen Schiffbruch Argentiniens wieder. Der Film wurde begeistert aufgenommen und gewann verdient den 1. Preis. Er erhielt weitere Auszeichnungen für die beste Regie und die beste weibliche Darstellung.

Vielbedacht und mit dem Spezialpreis der Jury bedacht wurde der bolivianische Film !La nación clandestina" (Die geheime Nation) von Jorge Sanjinés. Am Beispiel des Aymaraindios Sebatián, der mit der Maske des Todes zu seinem Volk zurückkehrt, rekonstruiert Sanjinés die Geschichte der Aymaras vom Kampf um die Bewahrung der eigenen Identität und vom Widerstand gegen militärische Repression.

Gastgeberland Cuba präsentierte – neben zahlreichen Dokumentarfilmen – fünf Produktionen des ICAIC auf dem Wettbewerb. Kassenschlager und Garant für eine Warteschlange um mindestens zwei Häuserblocks vor dem Yara war der Eröffnungsfilm "La bella del Alhambra" (Die Schöne des Alhambra) von Enrique Pinada. Der Film basiert auf Miguel Barnets auch hierzulande bekanntem Roman "Das Lied der Rachel" und wurde von der einheimischen Kritik schon im voraus als möglicher Preisträger gehandelt. Letztlich reichten die Vorschußlorbeeren nur für eine Auszeichnung für die beste Musik und die beste Scenographie.

Gegenüber der Romanvorlage bleibt Pinedas Verfilmung an der Oberfläche, er besticht das Publikum durch geschickter Wahl gefälliger Mittel: eindrucksvolle Kameraführung, wunderschöne Nachtaufnahmen, ein bißchen Musical, eine Portion Melodram, reichlich Fleisch und Sex fürs Auge und eine zugegebenermaßen hervorragende schauspielerische Leistung der jungen Beatriz Valdés. Von Barnets kritisch-differenzierter Studien einer Kabarettsängerin in Cubas vorrevolutionärer "Belle Epoque", von der "Atmosphäre der Enttäuschung, von der das Leben zur Zeit der Republik geprägt war" (Barnet), ist bei Pineda nicht viel zu spüren, es geht im Gegenteil ausgesprochen fröhlich und sinnlich zu. Eben ein Kassenschlager.
Eine vorsichtige Reflexion und kritische Annäherung an gegenwärtige cubanische Probleme versucht "Papeles secundarions" (Nebenrollen) von Orlando Rojas, der sich mit seiner ersten Regie bei "Una novia para Daid" (1985 – Eine Braut für David) bereits dem cubanischen Publikum empfohlen hatte. Der Generationskonflikt und wiederum die schmerzhafte Suche nach der eigenen Identität sind die – zur Zeit in Cuba überaus aktuellen – Themenbezüge, dieses zweistündigen Werks, das die Kritik als die wichtigste cubanische Produktion der achtziger Jahre einordnete. Die Jury bedacht diesen Film mit dem 2. Preis und den Preisen für die beste männliche Rolle und für den besten Schnitt.

Im Inhalt verbinden sich mehrere Ebenen: Eine Theatergruppe in der Krise bildet das Szenario zwischen Realität und Spiel aus verlorenen Illusionen, hoffnungslosen Leidenschaften und ehrlichen Wünschen. Sowohl auf der Bühne als auch im Leben werden die alternden Schauspieler mit ihren Ängsten und Niederlagen konfrontiert. Unter ihnen ist Mirtha, frustriert und bereit, das Theater zu verlassen, als ihr der Gastregisseur Alejandro die Möglichkeit anbietet, die Hauptrolle in einem Stück zu spielen. Als junge Schauspieler zu der bestehenden Gruppe hinzustoßen, gerät dieses ganze menschlich und moralisch zerbrechliche Gefüge ins Wanken. Mirtha wird von einer jüngeren und zugleich attraktiveren Konkurrentin verdrängt, ihre Selbstzweifel zerstören sie beinahe. Zusätzlich überschattet ein Korruptionsskandal die Arbeit der Schauspieler. Ein sicherlich herausragendes Moment an Rojas Arbeit besteht in der Offenheit der aufgeworfenen Fragen, der Tiefe der Dialoge und der realistischen Konzeption. Papeles secundarios berührt auf ganz eigene Weise die Probleme, denen sich die cubanische Gesellschaft am Beginn der 90er Jahre gegenübergestellt sieht ohne dabei vorschnell Lösungen anzubieten.

Weniger erwähnenswert und sogar ärgerlich "Venir al mundo" (Auf die Welt kommen) von Miguel Torres, den die Cubaner schon im Sommer sehen konnten und durch den – leider – die "Schwarzwaldklinik" ihre cubanische Version erfährt: erfolgreicher Arzt (Gynäkologe!) im Selbstzweifel zwischen Ehefrau, Geliebter und er Karriere …

Eine wichtige Chance verpaßt hat "El vals de la Habana Vieja" (Der Walzer von Alt-Havanna) von Luis Felipe Bernaza und Eynaldo Montero, nämlich die notwendige Auseinandersetzung um den Konflikt zwischen traditionellen Werten und sich verändernden Lebensentwürfen aufzuarbeiten: es geht um die Probleme und Schwierigkeiten einer Mutter, das traditionelle Fest zum 15jährigen Geburtstag ihrer Tochter zu organisieren. Der Film ist vor allem gewollt komisch und auch ein bißchen langweilig.

Zu nennen wäre bei den neuen cubanischen Produktionen noch ein Film, der nicht gezeigt wurde. Victor Casaus, der sich vor allem als Dokumentarfilmer und Drehbuchautor von wichtigen Filmen wie "El hombre de Maisinicú" hervorgetan hat, wollte mit "Bajo presin" (Unter Druck) ein sicher für die Zuschauer interessantes Werk vorstellen, das aber angeblich aus technischen Gründen nicht vorgelegt werden konnte. Man munkelte, daß der Film deshalb zurückgezogen worden sei, weil Carlos Varela, jüngster Stern am Nova-Trova-Himmel und kritischer Dorn im Auge der Kulturfunktionäre die Musik für diesen Film geschrieben hat. Eine offizielle Erklärung gab es dafür nicht. Hier soll nur die Zusammenfassung wiedergegeben werden, mit der Hoffnung, daß er in einem der nächsten Cuba Libre besprochen werden kann: ein Arbeiter, z Hause umstrittener Familienvater und in der Fabrik "Held der Arbeit", setzt sich nach einem schweren Arbeitsunfall mit den eigenen Wahrheiten auseinander. Eine Entscheidung gefährdet sein Leben, während er gleichzeitig Fehler der Fabrikleitung aufdeckt.

Bleibt zu erwähnen, daß die "Filmschule der drei Welten" - unbeachtet von der cubanischen Presse – eine sehenswert Produktion vorstellte, die in Zusammenarbeit mit einer italienischen Gemeinde entstanden ist: ein Dokumentarfilm der Studenten über die soziale Situation afrikanischer Emigranten in und um Pisa. "Vu compra – no tiene sentideo" (Sie kaufen? - das macht keinen Sinn) problematisiert den alltäglichen Rassismus und die Ghettoisierung afrikanischer Asylsuchender. Unter der Co-Regie von Fernado Birri, dem Leiter der Filmschule, haben die sechs StudentInnen der Filmschule einen gelungenen Versuch unternommen, experimentiell die Probleme von Menschen aus der "3. Welt" als Emigranten und sozial Benachteiligte in der "1. Welt" zu einem filmischen Dokument zu verarbeiten. Für die StudentInnen bestand die hauptsächliche Erfahrung darin, eine kollektive Arbeit vorlegen zu können, bei der jeder von ihnen eigene Erfahrungen bei der Herstellung eines solchen Films sammeln konnte. Fernando Birri betonte aber auch, daß der Film eine wichtige Sensibilisierungsfunktion für das italienische Publikum besitze.

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CUBA LIBRE 1-1990